Zur Sache

11. Juni 2018

Man könnte auch sagen: fortgesetzter Bocksgesang. In einem Beitrag zur Wissenschaftsseite der FAZ vom 30. Mai 2018 berichtet Melanie Möller, Professorin am Institut für griechische und lateinische Philologie der Freien Universität Berlin, von Bemühungen innerhalb der Literaturwissenschaften (die sich eben gern Philologien nennen), sich ihrer philologischen Kernkompetenzen zu vergewissern. Demnach gebe es eine Art Gegenbewegung zur Fokussierung der Philologien auf Inhalte und die vorgebliche Inanspruchnahme für gesellschaftliche Zwecke. Das Gegenmittel: Fokussierung auf die Erkenntnisverfahren, die Konzentration darauf, wie Literatur gemacht wird, wie sie argumentiert, wie sie ihre Verfahren vorstellt oder verdeckt. Das solle verhindern, dass sich die Philologien zu Dienstleistern fremder Fächer erniedrigen. „Kerngeschäft“ der Philologien bleibe „die Lektüre selbst und damit die ‚konkrete Auseinandersetzung mit Texten im Moment und im Medium der Lektüre'“, wie Möller aus einem Band zum Thema zitiert (Lektüren. Positionen zeitgenössischer Philologie. Hrsg. von L. Banki und M. Scheffel. Trier 2017). 

Nun wird man die Lektüre als initiale Tätigkeit von Philologen (aber auch Wissenschaftlern anderer Fächer) nicht vernachlässigen wollen. Es steht den Literaturwissenschaften auch gut zu Gesicht, wenn sie sich ihrer Aufgabe bewusst bliebe, literarische wie textliche Verfahren überhaupt hinreichend genau zu analysieren. Aber die Wendung vom „Hauptgeschäft“ ist dann doch ein wenig verblüffend, denn außerhalb der Institute ist die Literaturwissenschaft eigentlich kein Geschäft mehr. Das kann man auch mal akzeptieren.

Die größte Aufmerksamkeit zogen die Philologien vielleicht noch in den 1970er Jahren auf sich, als ihre Repräsentanten noch fleißig ideologisierten – was sich an der FU gut hat studieren lassen. Immerhin hat hier die Kommune I im germanistischen Institut Platten aufgelegt. Das ist lange vorbei. Mit der Ideologiekritik will niemand mehr etwas zu tun haben, sogar die Sozialgeschichtsschreibung der Literatur ist lange vergangen. Statt dessen wurden diverse „turns“ in den Fächern gesichtet, stets auf der Suche nach der verlorenen Bedeutung, oder anders gewendet, immer abschüssiger auf dem sich weiter beschleunigenden Weg in die Bedeutungslosigkeit. Irgendwann mal waren die Philologien bei der ästhetischen Wahrnehmung angekommen, und jetzt wirds wohl wieder die Rhetorik werden. Oder das close reading?

Nochmal: Ein rhetorisches Handwerkszeug steht jedem Literaturwissenschaftler gut. Belesenheit ist die Basis jeder literaturwissenschaftlichen Tätigkeit (und das meint nicht nur die Kenntnis der immerwährenden Klassiker). Die Frage nach der Konstruktion, der Argumentation, den Verfahren, ja dem Konzept von Texten unterscheidet Philologen (hoffentlich) von anderen Fachkollegen. 

Aber das heißt eben nicht, dass man „die Sache“ lassen kann, wie es provokativ im Titel des Berichts von Möller heißt. Davon einmal abegsehen davon, dass das zu einer weiteren Abkopplung der Literaturwissenschaften von der Literatur führen würde (denn bei ihr, dem Gegenstand der Literaturwissenschaft, und ihren Lesern gehts dauernd um Sachen, und auch ums Gemachte). Sondern das heißt nur, dass die Literaturwissenschaften ihre besondere Kompetenz nutzen sollten. Die vorschnelle Suspendierung einer angeblichen Indienstnahme der Literatur und Literaturwissenschaft für gesellschaftliche Zwecke verstellt nur den Blick darauf, dass beide sich aus ihren gesellschaftlichen Kontexten nicht lösen können. Und mit Verlaub, das damit abzutun, dass angeblich von der Literatur (merkwürdiger Weise ist an dieser Stelle von Literatur und nicht von Literaturwissenschaft die Rede) gefordert werde, sie habe „ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten“, ist schlicht ein unseriöses Argument. Indem sich Literaturwissenschaftler nur noch darauf konzentrieren, wie Texte gemacht sind, lassen sie sie eben nicht zu ihrem Recht kommen. Das gelingt nur, wenn das auch noch – was eine Zeitlang als Mindestanforderung in literaturwissenschaftlichen Zwischenprüfungen an der FU formuliert worden ist – kontextualisiert wird. So viel Mühe sollte man sich schon geben, und sich eben nicht darauf beschränken zu lesen und das auch noch zu thematisieren, vielleicht sogar noch, was das mit einem macht. 

Schaudern?