„Gordon ist mein Butterbrot. Sie nicht.“

Beziehungskalküle bei Agatha Christie (oder ein angewandter Brecht)

2. Januar 2024

Agatha Christie war nicht nur eine kreative und äußerst amüsante Krimiautorin, sie führt auch die Diskussionen etwa zur ökonomischen Basis der weiblichen Emanzipationr der 1920er und frühen 1930er Jahre weiter. Dabei reproduziert sie auch die jeweiligen Tendenzen ihrer Zeit, was angesichts der langen literarischen Karriere einige Wendungen impliziert. In dem erstmals 1939 unter dem Titel „Easy to Kill“ erschienenen Roman (auf deutsch „Das Sterben in Wychwood“, hier in der Fassung der 17. Aufl. 1984 bei Scherz) findet sich das Streigespräch eines Mannes, Luke, und einer Frau, Bridget, die erkennbar im Verlauf der Geschichte zum Paar werdens wollen. Zum Zeitpunkt des Gespräche ist die Frau jedoch noch die Sekretärin und werdende Gattins des Zeitungsmagnaten Lord Whitfield, der sich in seinem Geburtsort Wychwood eine Residenz leistet. Kurz zuvor haben die beiden in einem Tennismatch gegen den Bräutigam nur deshalb verloren, weil Bridget ab dem Moment, in dem der Lord übelste Laune bekommt, ihre miserabelste Tennisform zeigt, offensichtlich weil er das Match zu verlieren droht – und ein Mann seines Standes verliert nicht gern.

Luke ist empört und stellt Bridget zur Rede, nicht ohne sich bei dieser Gelegenheit zu erklären. Was ihm freilich zu diesem Zeitpunkt – mehr oder weniger auf der Hälfte seiner Ermittlungen zu einer merkwürdigen Reihe von Todesfällen Wychwood – noch abschlägig beschieden wird, und zwar auf einer klaren wirtschaftlichen Entscheidungsgrundlage. Sie erklärt Luke schlicht: „Gordon“ – das ist der Vorname von Lord Whitfield – „ist mein Butterbrot. Sie nicht.“ Auf die Frage, warum sie Lord Whitfield heiraten will, antwortet sie zudem damit, dass sie als Ehefrau deutlich besser gestellt sei denn als Sekreträrin. 100.000 Pfund als Ausstattung, einiges an Schmuck und ein ordentliches Toilettengeld schlagen sechs Pfund die Woche ziemlich deutlich. Dafür muss sie als Ehefrau allerdings „andere Pflichten“ erfüllen, was die kaum verdeckte, aber immer noch umschriebene Wendung für die sexuellen Dienstleistungen ist, die die Ehefrau im Rahmen ihrer ehelichen Pflichten erbringen muss, so zumindest der zunehmend eifersüchtige Luke.

Bridget tut das aber als „melodramatischer Haltung“ ab: Der vermögende Gatte sei mehr Junge als Mann, seine Bedürfnisse richteten sich auf den Ersatz der früh verlorenen Mutter, er bedürfe der Aufmerksamkeit. Sex – der nicht ausdrücklich erwähnt wird – wird also nicht die Leistung sein, die die erbringen muss, auch wenn Bridgets Argument, das folgt, eine literarische Schwachstelle hat: „Meine Aufgabe als Gordons Gattin wird kaum von meiner Aufgabe als Gordons Sekretärin zu unterscheiden sein.“ Man erinnere sich an die Vorgeschichte von Keuns „Kunstseidenem Mädchen“ oder an Rudolf Braunes „Mädchen an der Orga Privat“, dass da auch mehr sein kann.

Mitgedacht ist das hier nicht, aber Agatha Christie schließt auch so an die Fragestellungen deutschsprachigen Romane der frühen 1930er Jahre an, die immer durchspielen, wie denn junge Frauen in der modernen Gesellschaft, die ihnen zwar mehr Rechte und Möglichkeiten, aber eben auch mehr Risiken bescheren, bestehen sollen. Vicki Baums „stud. chem. Helene Willfüer“ oder Helene Wolffs Nachlassroman „Hintergrund für Liebe“ ( jüngst erst herausgegeben als eines der letzten Bücher bei Weidle in Bonn, vor dem Verkauf) führen das vor, auch Keuns „Kunstseidenes Mädchen“. Das wirtschaftliche Überleben ist dabei ein vorrangiges Ziel, das mit verschiedenen Mitteln erreicht werden kann, auch mit der Ehe, auch mit der Prostitution und gelegentlich mit einer Kombination von beidem.

Das macht die Situation zwischen Luke und Bridget nicht einfacher, aber klarer. Er ist ein wenig altmodisch und melodramatisch, sie ist eben eine moderne Frau, die sich um sich selbst sorgen muss. Das bringt ihr den Vorwurf ein, ein „kaltblütiger kleiner Teufel“ zu sein, was sie damit kontert, dass sie ihn einen „heißblütigen kleinen Narren“ nennt.

Und um ihr Konzept noch tragfähiger zu machen, trägt sie ihre Geschichte mit einem gewissen Johnnie Cornish vor, den sie geliebt, der sie aber für eine „rundliche Witwe mit ländlichem Akzent, einem Doppelkinn und einem Einkommen von dreißigtausend Pfund im Jahr“ verlassen habe. So etwas könne einem schon die Romantik austreiben. Um Romantik, lernen wir daraus, geht es in wirtschaftlich schweren und zugleich unruhigen, ja dynamische Zeiten eben nicht, sondern darum zurecht zukommen. Was auf den Satz vom Vorrang des Fressen vor der Moral verweist.


Biografische Anstrengungen

Kurze Notizen zu einem Genre

29. November 2024


Biografien sind in den Kulturwissenschaften wahlweise ein
Zugeständnis an die Restbestände der Genieästhetik oder ein Eingeständnis, sich
dem Authentifizierungszwang der Moderne nicht entziehen zu können. Ob nun das
Originalgenie in seinen jeweiligen Abnutzungsformen im Vordergrund steht, die
seit der Wende zum 20. Jahrhundert vorgeführt worden sind, oder die Echtheit
des persönlichen Ausdrucks, die aufgrund der Abstraktheit moderner Systeme
beschworen wird, bleibt wahrscheinlich unentscheidbar. Jedenfalls kommt
irgendwann der Moment, in dem der Autor des Werks das Werk zu verdrängen
beginnt, weil nur er (oder sie) selbst für dessen Authentizität und/oder
Wirkmacht einzustehen vermag.

Dabei hat Svetan Todorov biografische Arbeiten vor
langen Jahren bereits (in seinem Artikel zur „Poetik“) mit ziemlich deutlichen
Worten aus dem wissenschaftlichen Feld verwiesen. Er ist aber damit –
offensichtlich – grandios erfolglos geblieben. Der Vorrang des Werks vor seinem
Autor hat sich anscheinend ebensowenig durchsetzen lassen wie die Idee,
dass kein individueller Autor Werke hervorbringt, sondern sie sich selbst
generieren.

Dabei ist die Funktion dieser biografischen Operation erkennbar genug: Erst mussten Künstler resp. Autoren (die ja nicht nur schreiben, sondern auch andere Kunst hervorzubringen) den Verlust von Totalität

kompensieren (Goethe forever), dann mussten sie eben dafür einstehen, dass das,
was sie geschrieben, gemalt oder eben auch fotografiert hatten, auch
tatsächlich und wahrhaftig war und ist. Was am Beispiel der Fotografie schon als
beeindruckende Volte gesehen werden darf, wo sie selbst ja schon das Tatsächliche
und Wahrhaftige garantieren soll.

Was zu einer weiteren Nebenbemerkung führt, hier zu den methodischen Sollbruchstellen von Biografien, kommen sie doch einerseits ihren Objekten notwendiger Weise extrem nahe, während andererseits Leerstellen biografischer Verläufe einigermaßen plausibel gefüllt werden müssen – was allemal den Vorwurf mangelnder Distanz einerseits, unzulässiger Extrapolation andererseits provoziert.

Anders formuliert, Biografen kommen in den Verdacht, sich mit den porträtierten Gestalten der Geschichte allzusehr zu identifizieren. Was allerdings wohl bei Hölderlin einen anderen Grad an Akzeptanz hat als etwa bei Hitler, Stalin oder Pol Pot. Zugleich sind große Teile von Biografien notwendiger Weise erfunden, weil Biografen unter dem Druck stehen, konsistente biografische Erzählungen zu liefern und keine wesentlichen Lücken zu lassen. Einzuräumen, dass es Episoden im Leben einer Person gibt, die biographiewürdig ist, kann dann schon als Eingeständnis von Biografen gelten, an ihrem Projekt gescheitert zu sein.


Literarische Verbrechen

Ross Thomas‘ Krimis sind (beinahe) perfekt. „Zu hoch gepokert“ demonstriert das

2. September 2023

Man könnte behaupten, dass der Krimi der Gegenwart allzu oft an den mangelnden Kompetenzen seiner Schreiber/innen leidet. Warum? Immer wieder spült es neue Autor/innen ins Genre (was kein Schaden ist), und die Verlage scheinen für alles halbwegs Taugliche dankbar genug zu sein, dass sie alle möglichen stilistischen und auch konzeptionellen Augen zudrücken. Anders lassen sich die zahlreichen schlecht geschriebenen und nicht zuende gedachten Krimis kaum erklären. Von denen, die aus anderen Gründen nicht hingehen, abgesehen. Allerdings muss hier gleich eingeräumt werden: Schlechte Krimis hat es immer schon gegeben. Aber der Glaube an die Lernfähigkeit eines Betriebs und eines Genres kommt einem schon gelegentlich abhanden – weshalb man gelegentlich dann zu einem der Großmeister greifen muss, um die Stimmung hoch zu halten und den Geschmack an den Verbrechen in der Literatur angesichts der zahlreichen literarischen, naja, Verbrechen nicht zu verlieren.

In diesem Fall soll es also der 1995 verstorbene amerikanische Altmeister Ross Thomas sein, dessen Werk seit einigen Jahren vom Alexander Verlag gepflegt und in einer neuen Übersetzung herausgebracht wird. Auch wenn der Verlag ansonsten vor allem großes Theater feiert, mit Ross Thomas hat er sich Dank verdient, der ihm hier entgegengebracht werden soll.

Das jüngste Produkt dieses Engagements ist ein kleiner, aber bemerkenswerter Krimi, der präzise auf den Punkt hin geschrieben ist. „Zu hoch gepokert“ heißt er in der neuen deutschen Fassung, als „Ein scharfes Baby“ hat ihn Ullstein 1974 bereits einmal gedruckt. Im amerikanischen Original ist er als „The Highbinders“ erschienen, noch unter dem Pseudonym Oliver Bleed – allesamt Titel, die wenig zu verbinden scheint; aber das Problem deutscher Titel ist seit Jahrzehnten virulent.

So bedenklich die Titelvarianten sind, so brillant ist der Text selbst, und das auch in der deutschen Übersetzung, die von Gisbert Haefs (sic!) stammt: Keine Zeile, kein Satz, kein Wort scheint zu viel zu sein, obwohl sich Thomas einige Abschweifungen erlaubt, die allerdings so in das Romangefüge eingepasst werden, dass Leser dabei immer bedient werden. Selbst was sonst als unverzeihlicher Fehler gilt, nämlich das Auftauchen eines „deus ex machina“ (bei Thomas sinds gleich mehrere) wird derart selbstverständlich inszeniert, dass ihm so etwas niemand krumm nehmen kann.

Die Geschichte, die Thomas hier um seinen Protagonisten Philip St. Ives herum baut, ist vom selben Understatement geprägt wie die Erzählweise insgesamt. Es braucht keinen brutalen Auftakt, um Leser zu fesseln, sondern nur einige amüsierende Sätze, die immer wieder demonstrieren, dass viel dazu gehört, gute Texte zu schreiben. Vor allem Zurückhaltung.

Jener Philip St. Ives nun, eigentlich ein Journalist, wird nach London geholt, um einen anfangs noch geheimnisumwehten wertvollen Gegenstand wieder zu beschaffen, der seinem Eigentümer entwendet worden ist. Der Deal dabei ist, dass es für den Eigentümer billiger und erfolgsträchtiger ist, sein Eigentum zurückzukaufen, als zu riskieren, dass es auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Meist handelt es sich um Kunst, manchmal um Schmuck, immer um etwas von Wert, gelegentlich ist das Eigentumsrecht an der Sache strittig.

Die Aufgabe des Vermittlers, als der St. Ives angeworben ist, ist es, das Diebesgut gegen Lösegeld auszutauschen, so dass es keinen direkten Kontakt zwischen den Parteien gibt. Soweit so gut. Der Deal scheint halbwegs voran zu gehen, bis dann die Situation eskaliert und eine Reihe von Leichen auftaucht, alles Leute, die irgendwie mit dem Schwert Ludwig des Heiligen, um das es sich hierbei (angeblich) handelt, zu tun haben.

Spätestens bei diesem Schwert, das angeblich in einem Londoner Trödel aufgetaucht ist, nachdem es Jahrhunderte verschollen war, sollten Leser aufmerksam werden, droht hier doch der Rückfall in die phantastische Kolportage, wie sie etwa in den Indiana Jones-Filmen bis heute überlebt hat. Irgendwie scheint die Suche nach einem verlorenen Schatz, hier in der Fassung des unvermutet bereits gefundenen und dann unglücklich verlorenen, die Fantasie immer noch anzuregen und für Aufmerksamkeit zu sorgen. Obwohl der Blödsinn-Quotient in solchen Sachen unerhört hoch ist.

Aber Ross Thomas weiß sogar mit einem solchen Stoff umzugehen, angemessen sowieso, wie spätestens das Ende zeigt, bei dem das schöne alte Schwert, das angeblich auch noch für den Staat Frankreich einen unerhörten Wert besitzt, vielleicht und beinahe endgültig verloren geht. Es sei denn, es taucht irgendwann und unverhofft wieder in einem Londoner Trödel auf. Du es sei denn, dass es dieses Schwert überhaupt wirklich gibt.

Da macht es sogar eher Sinn, sein Geld mit Poker zu verdienen, was St. Ives gleichfalls im Laufe des Romans mit gutem Erfolg versucht – und woher der neue Titel wohl seine Legitimation bezieht.

Naheliegend ist das Ganze als Kammerspiel angelegt. Jeder kennt hier irgendwie jeden. Die Welt ist klein im kriminellen Milieu des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und Thomas inszeniert das sich immer mehr steigernde Gemetzel in dieser kleinen Welt mit einer Bravour, die es in sich hat. Chapeau, auch nachträglich.

Ross Thomas: Zu hoch gepokert. Ein Philip-St. Ives-Fall. Aus dem amerikanischen Englisch von Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2023.


Ein gelbes Tier mit schwarzen Flecken

Stefan Börnchen schreibt Flix‘ neuem Marsupilami-Band die Antwort auf beinahe alle Fragen zu

15. März 2023

In der FAZ vom 25.10.2022 hat Stefan Börnchen eine beeindruckte Besprechung von Flix‘ neuem Comicband zum Marsupilami veröffentlicht (Das Humboldttier, Hamburg: Carlsen 2022), der das merkwürdige gelbe Wesen, das anscheinend aus Südamerika stammt und beeindruckende schwarze Flecken und einen, ich glaube, acht Meter langen Greifschwanz trägt, ins Berlin des Jahres 1931 versetzt. Das ist nicht das erste Mal, dass die Marsupilami-Geschichte neue Varianten erhält. Aber ein fiktionaler Kosmos verträgt viele Widersprüche, es muss auch nicht alles zusammenpassen, das sollte man alles nicht zu eng sehen. Ein Jahr vor Flix hat etwa das Gespann Zidrou und Frank Pé den ersten Band einer Folge herausgebracht (Die Bestie 1, 2021, gleichfalls bei Carlsen), in dem das Marsupimali dieses Mal das Belgien der Nachkriegszeit unsicher macht. Denn darauf kommt es an. Egal wohin das Marsupilami versetzt wird, es macht immer Aufsehen und stellt die Verhältnisse auf den Kopf, wobei es offensichtlich durchaus zwischen angenehmen und unangenehmen Zeitgenossen zu unterscheiden vermag.

Stefan Börnchens Besprechung ist selbst wiederum beeindruckend, Börnchen sieht genau hin, weist auf unauffällig zeichnerische Verweise hin, die Flix in seinen Band einbaut – Referenzen an die Großen seines Fachs, an Art Spiegelmans „Maus“ etwa oder an Hergés „Tim in Tibet“. Alles das, wie auch die zeittypischen Themen wie Antisemitismus, aufkommender Nationalsozialismus, autoritäre Haltungen – will sagen Blockwartstypen – im preußischen Berlin oder eben auch die Problematik der kolonialen Aneignung (dieses Mal am Beispiel des Humboldtschen Sammeleifers, der seinen künftigen Präparate schon mal ganz sanft das Genick bricht) wird bei Flix, so Börnchen zurückhaltend, ja leise behandelt. Das kann man loben, wie auch die narrative Komposition von kultureller Appropriation mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in einer der interessantesten urbanen Zentren des frühen 20. Jahrhunderts.

Dem sei genauso wenig widersprochen wie dem Lob, das Börnchen Flix ausspricht. Freilich steht Börnchens Besprechung unter einer theoretischen Annahme, die er gleich zu Beginn mit Bezug auf eine Publikation von Michael Rothberg formuliert und die, recht knapp, auf die Formel der Konkurrenz von Dekolonialisierung und Holocaustgedenken bringt.

Hintergrund dieser Konkurrenz ist die Kritik postkolonialer Intellektueller und Gruppen am Staat Israel und dessen Palästina-Politik, in der eine Fortsetzung kolonialen Handelns gesehen wird. Sie mit dem Verweis auf die Traditionen von Antisemitismus, mithin als antisemitisch zurückzuweisen, ist inhaltlich solange kaum plausibel, als die Kritik am staatlichen Handeln sich von antisemitischen Mustern fernhält. Was seine Politik angeht, ist der Staat Israel nicht sakrosankt. Etwas anderes ist es, wenn die Kritik Israels sich antisemitischer Muster bedient. Die Formen der Kritik, wie sie etwa bei der Documenta 15 bekannt gemacht wurden, berühren diese Grenze zumindest. Dass die Diskussion darüber in Deutschland schnell an ihre Grenzen kam, ist angesichts der deutschen Geschichte kaum verwunderlich. Und es gibt gute Gründe vorzubringen, dass es in Deutschland dafür andere Sensibilitäten gibt als anderswo. Selbst postkoloniale Autoren wie Achille Mbembe geraten mit ihrer Kritik Israels selbst wieder in die Kritik, was nicht zuletzt zeigt, in welchem schwierigem Gelände man sich hier bewegt.

Börnchen nun sieht in Flix‘ Kombination der Humboldtschen Vorgeschichte des Marsupilami mit dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft um 1931 einen Versuch, die Konkurrenz beider gesellschaftskritischer Ansätze aufzuheben und sie beide fruchtbar zu machen – was grundsätzlich zu begrüßen ist. Denn trotz der anscheinend unauflöslichen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis ist der Widerspruch zwischen Dekolonialisierungsanspruch und Ächtung des Antisemitismus nicht essentiell.

Allerdings bleibt zu fragen, ob Börnchens Belege zu mehr reichen, als einen sehr subtilen Subtext des Bandes zu konstatieren, der durch ein Hauptnarrativ überdeckt wird, das wiederum an das anarchische Grundnarrativ der Marsupilami-Figur gebunden ist.

Um den Subtext zu identifizieren, macht Börnchen einige Hinweise des Textes stark, die jedoch einem weniger aufmerksamen Leser schnell entgehen. So sei die Familie der kleinen Mimmi zweifellos jüdisch, wie ihr Name (Löwenstein), der siebenarmige Leuchter aus dem Küchentisch und ein Davidstern am Fenster zeigten. Allerdings findet sich auf dem Küchentisch neben der Menora zudem noch ein Kerzenständer, der als Weihnachtsengel gelten kann.

Der siebenarmige Leuchter oben links, links daneben der Kerzenständer. Die Seraphim gibts anscheinend im Judentum und im Christentum (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Und auf der Seite, auf der sich die Zeichnung mit dem sechszackigen Stern findet, wird – im übrigen deutlich auffälliger – die Zeichnung einer Fotografie gezeigt, auf der Mimmi samt Mutter und dem abwesenden Vater (tot? abgehauen?) unter dem Weihnachtsbaum und vor einer Krippe zu sehen sind.

Im Bild oben rechts am Fenster unscheinbar, ein sechseckiger Stern. Unten in der Mitte das Familienfoto unterm Weihnachtsbaum. Nebenbei die üble Nachbarin mit nicht minder übler Nachrede oben links. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Die Familie ohne weiteres also als jüdisch zu kennzeichnen, ist mit diesen Hinweisen wohl zumindest nicht zwingend; es bleiben Widersprüche. Der stärkste Hinweis ist allerdings die Beschwerde einer der Nachbarinnen über das „Judenkind“, das nicht nur die saubere Treppe einsaut, sondern auch noch dem freundlichen Blockwart des Hauses (naja, es wird wohl der Hausmeister sein) die Zunge rausstreckt. Aber diese üble Nachrede ist im Band bewusst sehr klein geschrieben (siehe unten rechts), muss also halbwegs mit der Lupe gelesen werden. Und als üble Nachrede ist sie auch nicht wirklich belastbar.

„Es sind immer die Juden“ – hier sehr klein gehalten das Gerede der miesen Nachbarinnen. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Was auch hier heißen soll, dass Flix die Kritik am Humboldtschen Sammelwahn durchaus wahrnehmbar formuliert, das Thema Antisemitismus aber eher im Hintergrund mitlaufen lässt, während er die Fortführung der anarchischen Wirkung des Marsupilami auf das preußische Berlin in den Vordergrund stellt.

Nimmt man solche Einwände ernst, dann ist die These Börnchens deutlich weniger tragfähig, als es einem lieb sein kann, denn an der Vereinbarkeit beider politischer Linien, der Entkolonialisierung der westlichen Gesellschaften und der Ächtung antisemitischen Gedankenguts sollte es eigentlich keinen Zweifel geben, auch nicht daran, dass Flix sich dieses Themas im Hintergrund annimmt. Aber eben im Hintergrund, was den Anspruch an seine Leser deutlich erhöht – schaut genau hin. Und dennoch nicht von der Hauptlinie des Bandes ablenken sollte, dass nämlich auch eine urbane Gesellschaft wie dieses Berlin der frühen 1930er Jahren ein gerütteltes Maß an anarchischer Energie hätte vertragen können. Und dass die Sammelleidenschaft der beginnenden modernen Gesellschaft ihrerseits grenzwertig ist.


Faktencheck von Romanen

Die TAZ versucht sich an Juli Zehs Realitätstüchtigkeit

15. Februar 2023

Romane müssen es mit der Realität nicht so genau nehmen. Nicht ob alles stimmt, was sie behaupten, ist für ihre Funktionsfähigkeit relevant, sondern ob das, was man Fakten nennt, im Romangeschehen plausibel ist – was eben oft damit zu tun hat, ob mans im wirklichen Leben auch für plausibel hält. Außerdem dürfen Romane oft Dinge behaupten, die kaum belastbar sind, gerade weil sie mit der Realität kreativ umgehen können und sollen. Das muss einem nicht immer gefallen, gegen Romane spricht das aber nicht.

Nun hat die TAZ einen Roman Juli Zehs (Zwischen Welten, 2023), den sie gemeinsam mit Simon Urban geschrieben hat, einem „Faktencheck“ unterzogen (TAZ vom 11.-17.2.2023, S. 23), der entweder ironisch gemeint ist oder nicht greift.

Herausgepickt werden vier Themen: Der Ausverkauf ostdeutscher Landwirtschaft durch die Treuhand an große Agrarkonzerne, die ökonomische Krise von Bauern, hier eines Milchbetriebs und eines Biogaserzeugers, die Diskriminierung und mangelnde Respektierung von Landwirten und schließlich die Umweltfreundlichkeit der Produktion von Biogas.

Alles nicht oder wenigstens nicht ganz oder eben nicht mehr richtig, so wie es im Roman steht, meint die TAZ.

Aber eins nach dem anderen:

Die wirtschaftliche Lage von Bauern

Die ökonomische Situation von Landwirten mag sich im letzten Jahr gebessert haben, weil sie bessere Preise erzielen können, das ändert aber nichts daran, dass landwirtschaftliche Betriebe unter großem Preisdruck stehen und dass es deshalb auch Betriebe gibt, die aufgeben. Das betrifft naheliegend vor allem kleine Betriebe etwa in Ostdeutschland, wo die Böden schlecht sind, vor allem dann, wenn noch Nachfolgeprobleme auftauchen. Ob eine Biogasanlage sich lohnt oder nicht, hängt von verschiedenen Variablen ab. Wenn etwa ein Biogasproduzent vor 2021 für sein Gas langjährige Lieferverträge abgeschlossen hat, aber ab 2021 mit starken Preiserhöhungen bei Stromverbräuchen rechnen muss, kann das existenzgefährdend sein. Biogasanlagen haben einen extrem hohen Stromverbrauch, und bei 2 Mio. kWh kann eine Verdoppelung des Arbeitspreises schon mal fatal sein.

Ausverkauf der Landwirtschaft

Dass die Treuhand seit 2022 den Ausverkauf von Bodenbeständen gestoppt hat, bestätigt eigentlich nur eine langjährige Praxis aus der Zeit davor. Man dem Text nun wirklich nicht vorwerfen, dass er das aufnimmt und als Missstand anprangert, zumal im fiktionalen Kontext.

Umweltfreundlichkeit von Biogas

Biogas wird in der Tat vorrangig von pflanzlichen Energieträgern gewonnen, was ggf. zur Verschlechterung der Nachhaltigkeit führen kann, wenn etwa der Anbau von Mais zur Verwertung in einer Biogasanlage zur Verdrängung von Futterpflanzungen führt, wie das die TAZ moniert. Das Thema Artenvielfalt kommt hinzu. Dem steht freilich gegenüber, dass die Verdrängungsthematik erst einmal hypothetisch ist und organisatorisch anders bewältigt werden könnte. Und ähnlich geht’s mit der Diversifizität. Im Grundsatz ist das Monitum wohl korrekt, aber ob sich was daran ändern lässt oder ob hier nicht diese eine Monokultur angeprangert wird, andere aber nicht, ist nicht ganz klar. Hinzu kommt auch, dass die Frage, ob die den Anbau von Energiepflanzen genutzten Flächen relevant sind, im TAZ-Text nicht beantwortet wird. Also auch nicht ganz so eindeutig, wie von der TAZ gemacht. Und vor allem, bleibt hier noch die Frage, was der Roman in seinem Erzählkosmos damit anfangen will.

Respekt für Bauern

Was das angeht, ist gegen solche Klagen kaum ein Kraut gewachsen, und Umfragen helfen da auch nicht viel, ebenso wenig Subventionen. Dabei muss eine solche Behauptung weder richtig noch falsch sein, sie passt halt nur gut in das Schema vom Stadt-Land-Konflikt, in dem dann das Land und erst recht die Bauern den Kürzeren ziehen. Das führt oft zu sehr lustigen Behauptungen, mit denen der mangelnde Respekt für diesen oder jenen belegt werden soll. Aber auch hier ist vor allem eines relevant, was soll das im Roman bewirken?

Was will der Roman (was wollen uns die Autoren damit sagen? Autsch)

Damit soll dem Roman nicht das Wort geredet, sondern nur dem vermeintlichen Faktencheck die Eindeutigkeit ausgetrieben werden. Denn auch wenn wir Romane gern für die Wirklichkeit nehmen und sie uns dabei auch helfen, sich darin zu bewegen, gehören sie eben dort nur als Kultur- und Wirtschaftsgut hin oder eben als Gegenstand von Kritikern bis Literaturwissenschaftlern. Zehs Roman ist damit, wenn überhaupt nur dann „falsch“, wenn er eine falsche Geschichte erzählt, nicht weil er sein Personal mit Ansichten ausstattet, die hinreichend verbreitet sind, die keine Faktenbasis haben (naja, was darunter zu verstehen ist).

Auf die Geschichte und deren Bezugnahme auf Gegenwart oder Realität käme es aber an. An Zehs Unterleuten hat sich das bereits gut erkennen lassen: Die Zurichtung von Realität im Roman dient einer Realitätsaufarbeitung, die intentional ist. Im einzelnen mögen die „Fehler“ oder Verschiebungen irrelevant sein (ist doch egal, ob ein Windpark in Unterleuten auf 10 Hektar gebaut wird oder nicht und ob da kleine oder große Anlage gebaut werden, wichtig ist nur, es geschieht gegen den Willen der Leute vor Ort und dient Einzelinteressen, und ist doch egal, ob eine Biogasanlage sich lohnt oder nicht, wichtig ist nur, dass die Leute im Roman das Projekt vor die Wand fahren und dass sie in Notlagen geraten), in ihrer Gesamtheit wird aber dann so etwas wie eine ideologische Erzählung daraus. Kein Roman kann sich davon freimachen. Im Grundsatz schaun wir die Welt immer an, wenn wir Geschichten in ihr spielen lassen (und nicht nur dann). Und nichts anderes ist Ideologie (nicht nur „falsche“ Weltanschauung). Um sie anschauen zu können, muss Realität zugerichtet erzählt werden. Romanautoren lassen weg, kürzen, verkürzen und schneiden zu. Alles, was sie erzählen, ist notwendig unterkomplex bis falsch. Aber es kommt dann darauf, wie man sich zu dieser Erzählung stellt und ob man sie für stimmig, plausibel und zutreffend hält. Und dabei kann die Art der Zurichtung, derer sich ein Roman befleißigt, aufschlussreich sein. Aber die Erkenntnis selbst reicht noch nicht aus, zu erkennen, ob einem die ganze Richtung denn passt oder nicht.