Literarische Verbrechen

Ross Thomas‘ Krimis sind (beinahe) perfekt. „Zu hoch gepokert“ demonstriert das

2. September 2023

Man könnte behaupten, dass der Krimi der Gegenwart allzu oft an den mangelnden Kompetenzen seiner Schreiber/innen leidet. Warum? Immer wieder spült es neue Autor/innen ins Genre (was kein Schaden ist), und die Verlage scheinen für alles halbwegs Taugliche dankbar genug zu sein, dass sie alle möglichen stilistischen und auch konzeptionellen Augen zudrücken. Anders lassen sich die zahlreichen schlecht geschriebenen und nicht zuende gedachten Krimis kaum erklären. Von denen, die aus anderen Gründen nicht hingehen, abgesehen. Allerdings muss hier gleich eingeräumt werden: Schlechte Krimis hat es immer schon gegeben. Aber der Glaube an die Lernfähigkeit eines Betriebs und eines Genres kommt einem schon gelegentlich abhanden – weshalb man gelegentlich dann zu einem der Großmeister greifen muss, um die Stimmung hoch zu halten und den Geschmack an den Verbrechen in der Literatur angesichts der zahlreichen literarischen, naja, Verbrechen nicht zu verlieren.

In diesem Fall soll es also der 1995 verstorbene amerikanische Altmeister Ross Thomas sein, dessen Werk seit einigen Jahren vom Alexander Verlag gepflegt und in einer neuen Übersetzung herausgebracht wird. Auch wenn der Verlag ansonsten vor allem großes Theater feiert, mit Ross Thomas hat er sich Dank verdient, der ihm hier entgegengebracht werden soll.

Das jüngste Produkt dieses Engagements ist ein kleiner, aber bemerkenswerter Krimi, der präzise auf den Punkt hin geschrieben ist. „Zu hoch gepokert“ heißt er in der neuen deutschen Fassung, als „Ein scharfes Baby“ hat ihn Ullstein 1974 bereits einmal gedruckt. Im amerikanischen Original ist er als „The Highbinders“ erschienen, noch unter dem Pseudonym Oliver Bleed – allesamt Titel, die wenig zu verbinden scheint; aber das Problem deutscher Titel ist seit Jahrzehnten virulent.

So bedenklich die Titelvarianten sind, so brillant ist der Text selbst, und das auch in der deutschen Übersetzung, die von Gisbert Haefs (sic!) stammt: Keine Zeile, kein Satz, kein Wort scheint zu viel zu sein, obwohl sich Thomas einige Abschweifungen erlaubt, die allerdings so in das Romangefüge eingepasst werden, dass Leser dabei immer bedient werden. Selbst was sonst als unverzeihlicher Fehler gilt, nämlich das Auftauchen eines „deus ex machina“ (bei Thomas sinds gleich mehrere) wird derart selbstverständlich inszeniert, dass ihm so etwas niemand krumm nehmen kann.

Die Geschichte, die Thomas hier um seinen Protagonisten Philip St. Ives herum baut, ist vom selben Understatement geprägt wie die Erzählweise insgesamt. Es braucht keinen brutalen Auftakt, um Leser zu fesseln, sondern nur einige amüsierende Sätze, die immer wieder demonstrieren, dass viel dazu gehört, gute Texte zu schreiben. Vor allem Zurückhaltung.

Jener Philip St. Ives nun, eigentlich ein Journalist, wird nach London geholt, um einen anfangs noch geheimnisumwehten wertvollen Gegenstand wieder zu beschaffen, der seinem Eigentümer entwendet worden ist. Der Deal dabei ist, dass es für den Eigentümer billiger und erfolgsträchtiger ist, sein Eigentum zurückzukaufen, als zu riskieren, dass es auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Meist handelt es sich um Kunst, manchmal um Schmuck, immer um etwas von Wert, gelegentlich ist das Eigentumsrecht an der Sache strittig.

Die Aufgabe des Vermittlers, als der St. Ives angeworben ist, ist es, das Diebesgut gegen Lösegeld auszutauschen, so dass es keinen direkten Kontakt zwischen den Parteien gibt. Soweit so gut. Der Deal scheint halbwegs voran zu gehen, bis dann die Situation eskaliert und eine Reihe von Leichen auftaucht, alles Leute, die irgendwie mit dem Schwert Ludwig des Heiligen, um das es sich hierbei (angeblich) handelt, zu tun haben.

Spätestens bei diesem Schwert, das angeblich in einem Londoner Trödel aufgetaucht ist, nachdem es Jahrhunderte verschollen war, sollten Leser aufmerksam werden, droht hier doch der Rückfall in die phantastische Kolportage, wie sie etwa in den Indiana Jones-Filmen bis heute überlebt hat. Irgendwie scheint die Suche nach einem verlorenen Schatz, hier in der Fassung des unvermutet bereits gefundenen und dann unglücklich verlorenen, die Fantasie immer noch anzuregen und für Aufmerksamkeit zu sorgen. Obwohl der Blödsinn-Quotient in solchen Sachen unerhört hoch ist.

Aber Ross Thomas weiß sogar mit einem solchen Stoff umzugehen, angemessen sowieso, wie spätestens das Ende zeigt, bei dem das schöne alte Schwert, das angeblich auch noch für den Staat Frankreich einen unerhörten Wert besitzt, vielleicht und beinahe endgültig verloren geht. Es sei denn, es taucht irgendwann und unverhofft wieder in einem Londoner Trödel auf. Du es sei denn, dass es dieses Schwert überhaupt wirklich gibt.

Da macht es sogar eher Sinn, sein Geld mit Poker zu verdienen, was St. Ives gleichfalls im Laufe des Romans mit gutem Erfolg versucht – und woher der neue Titel wohl seine Legitimation bezieht.

Naheliegend ist das Ganze als Kammerspiel angelegt. Jeder kennt hier irgendwie jeden. Die Welt ist klein im kriminellen Milieu des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und Thomas inszeniert das sich immer mehr steigernde Gemetzel in dieser kleinen Welt mit einer Bravour, die es in sich hat. Chapeau, auch nachträglich.

Ross Thomas: Zu hoch gepokert. Ein Philip-St. Ives-Fall. Aus dem amerikanischen Englisch von Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2023.


Ein gelbes Tier mit schwarzen Flecken

Stefan Börnchen schreibt Flix‘ neuem Marsupilami-Band die Antwort auf beinahe alle Fragen zu

15. März 2023

In der FAZ vom 25.10.2022 hat Stefan Börnchen eine beeindruckte Besprechung von Flix‘ neuem Comicband zum Marsupilami veröffentlicht (Das Humboldttier, Hamburg: Carlsen 2022), der das merkwürdige gelbe Wesen, das anscheinend aus Südamerika stammt und beeindruckende schwarze Flecken und einen, ich glaube, acht Meter langen Greifschwanz trägt, ins Berlin des Jahres 1931 versetzt. Das ist nicht das erste Mal, dass die Marsupilami-Geschichte neue Varianten erhält. Aber ein fiktionaler Kosmos verträgt viele Widersprüche, es muss auch nicht alles zusammenpassen, das sollte man alles nicht zu eng sehen. Ein Jahr vor Flix hat etwa das Gespann Zidrou und Frank Pé den ersten Band einer Folge herausgebracht (Die Bestie 1, 2021, gleichfalls bei Carlsen), in dem das Marsupimali dieses Mal das Belgien der Nachkriegszeit unsicher macht. Denn darauf kommt es an. Egal wohin das Marsupilami versetzt wird, es macht immer Aufsehen und stellt die Verhältnisse auf den Kopf, wobei es offensichtlich durchaus zwischen angenehmen und unangenehmen Zeitgenossen zu unterscheiden vermag.

Stefan Börnchens Besprechung ist selbst wiederum beeindruckend, Börnchen sieht genau hin, weist auf unauffällig zeichnerische Verweise hin, die Flix in seinen Band einbaut – Referenzen an die Großen seines Fachs, an Art Spiegelmans „Maus“ etwa oder an Hergés „Tim in Tibet“. Alles das, wie auch die zeittypischen Themen wie Antisemitismus, aufkommender Nationalsozialismus, autoritäre Haltungen – will sagen Blockwartstypen – im preußischen Berlin oder eben auch die Problematik der kolonialen Aneignung (dieses Mal am Beispiel des Humboldtschen Sammeleifers, der seinen künftigen Präparate schon mal ganz sanft das Genick bricht) wird bei Flix, so Börnchen zurückhaltend, ja leise behandelt. Das kann man loben, wie auch die narrative Komposition von kultureller Appropriation mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in einer der interessantesten urbanen Zentren des frühen 20. Jahrhunderts.

Dem sei genauso wenig widersprochen wie dem Lob, das Börnchen Flix ausspricht. Freilich steht Börnchens Besprechung unter einer theoretischen Annahme, die er gleich zu Beginn mit Bezug auf eine Publikation von Michael Rothberg formuliert und die, recht knapp, auf die Formel der Konkurrenz von Dekolonialisierung und Holocaustgedenken bringt.

Hintergrund dieser Konkurrenz ist die Kritik postkolonialer Intellektueller und Gruppen am Staat Israel und dessen Palästina-Politik, in der eine Fortsetzung kolonialen Handelns gesehen wird. Sie mit dem Verweis auf die Traditionen von Antisemitismus, mithin als antisemitisch zurückzuweisen, ist inhaltlich solange kaum plausibel, als die Kritik am staatlichen Handeln sich von antisemitischen Mustern fernhält. Was seine Politik angeht, ist der Staat Israel nicht sakrosankt. Etwas anderes ist es, wenn die Kritik Israels sich antisemitischer Muster bedient. Die Formen der Kritik, wie sie etwa bei der Documenta 15 bekannt gemacht wurden, berühren diese Grenze zumindest. Dass die Diskussion darüber in Deutschland schnell an ihre Grenzen kam, ist angesichts der deutschen Geschichte kaum verwunderlich. Und es gibt gute Gründe vorzubringen, dass es in Deutschland dafür andere Sensibilitäten gibt als anderswo. Selbst postkoloniale Autoren wie Achille Mbembe geraten mit ihrer Kritik Israels selbst wieder in die Kritik, was nicht zuletzt zeigt, in welchem schwierigem Gelände man sich hier bewegt.

Börnchen nun sieht in Flix‘ Kombination der Humboldtschen Vorgeschichte des Marsupilami mit dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft um 1931 einen Versuch, die Konkurrenz beider gesellschaftskritischer Ansätze aufzuheben und sie beide fruchtbar zu machen – was grundsätzlich zu begrüßen ist. Denn trotz der anscheinend unauflöslichen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis ist der Widerspruch zwischen Dekolonialisierungsanspruch und Ächtung des Antisemitismus nicht essentiell.

Allerdings bleibt zu fragen, ob Börnchens Belege zu mehr reichen, als einen sehr subtilen Subtext des Bandes zu konstatieren, der durch ein Hauptnarrativ überdeckt wird, das wiederum an das anarchische Grundnarrativ der Marsupilami-Figur gebunden ist.

Um den Subtext zu identifizieren, macht Börnchen einige Hinweise des Textes stark, die jedoch einem weniger aufmerksamen Leser schnell entgehen. So sei die Familie der kleinen Mimmi zweifellos jüdisch, wie ihr Name (Löwenstein), der siebenarmige Leuchter aus dem Küchentisch und ein Davidstern am Fenster zeigten. Allerdings findet sich auf dem Küchentisch neben der Menora zudem noch ein Kerzenständer, der als Weihnachtsengel gelten kann.

Der siebenarmige Leuchter oben links, links daneben der Kerzenständer. Die Seraphim gibts anscheinend im Judentum und im Christentum (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Und auf der Seite, auf der sich die Zeichnung mit dem sechszackigen Stern findet, wird – im übrigen deutlich auffälliger – die Zeichnung einer Fotografie gezeigt, auf der Mimmi samt Mutter und dem abwesenden Vater (tot? abgehauen?) unter dem Weihnachtsbaum und vor einer Krippe zu sehen sind.

Im Bild oben rechts am Fenster unscheinbar, ein sechseckiger Stern. Unten in der Mitte das Familienfoto unterm Weihnachtsbaum. Nebenbei die üble Nachbarin mit nicht minder übler Nachrede oben links. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Die Familie ohne weiteres also als jüdisch zu kennzeichnen, ist mit diesen Hinweisen wohl zumindest nicht zwingend; es bleiben Widersprüche. Der stärkste Hinweis ist allerdings die Beschwerde einer der Nachbarinnen über das „Judenkind“, das nicht nur die saubere Treppe einsaut, sondern auch noch dem freundlichen Blockwart des Hauses (naja, es wird wohl der Hausmeister sein) die Zunge rausstreckt. Aber diese üble Nachrede ist im Band bewusst sehr klein geschrieben (siehe unten rechts), muss also halbwegs mit der Lupe gelesen werden. Und als üble Nachrede ist sie auch nicht wirklich belastbar.

„Es sind immer die Juden“ – hier sehr klein gehalten das Gerede der miesen Nachbarinnen. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Was auch hier heißen soll, dass Flix die Kritik am Humboldtschen Sammelwahn durchaus wahrnehmbar formuliert, das Thema Antisemitismus aber eher im Hintergrund mitlaufen lässt, während er die Fortführung der anarchischen Wirkung des Marsupilami auf das preußische Berlin in den Vordergrund stellt.

Nimmt man solche Einwände ernst, dann ist die These Börnchens deutlich weniger tragfähig, als es einem lieb sein kann, denn an der Vereinbarkeit beider politischer Linien, der Entkolonialisierung der westlichen Gesellschaften und der Ächtung antisemitischen Gedankenguts sollte es eigentlich keinen Zweifel geben, auch nicht daran, dass Flix sich dieses Themas im Hintergrund annimmt. Aber eben im Hintergrund, was den Anspruch an seine Leser deutlich erhöht – schaut genau hin. Und dennoch nicht von der Hauptlinie des Bandes ablenken sollte, dass nämlich auch eine urbane Gesellschaft wie dieses Berlin der frühen 1930er Jahren ein gerütteltes Maß an anarchischer Energie hätte vertragen können. Und dass die Sammelleidenschaft der beginnenden modernen Gesellschaft ihrerseits grenzwertig ist.


Faktencheck von Romanen

Die TAZ versucht sich an Juli Zehs Realitätstüchtigkeit

15. Februar 2023

Romane müssen es mit der Realität nicht so genau nehmen. Nicht ob alles stimmt, was sie behaupten, ist für ihre Funktionsfähigkeit relevant, sondern ob das, was man Fakten nennt, im Romangeschehen plausibel ist – was eben oft damit zu tun hat, ob mans im wirklichen Leben auch für plausibel hält. Außerdem dürfen Romane oft Dinge behaupten, die kaum belastbar sind, gerade weil sie mit der Realität kreativ umgehen können und sollen. Das muss einem nicht immer gefallen, gegen Romane spricht das aber nicht.

Nun hat die TAZ einen Roman Juli Zehs (Zwischen Welten, 2023), den sie gemeinsam mit Simon Urban geschrieben hat, einem „Faktencheck“ unterzogen (TAZ vom 11.-17.2.2023, S. 23), der entweder ironisch gemeint ist oder nicht greift.

Herausgepickt werden vier Themen: Der Ausverkauf ostdeutscher Landwirtschaft durch die Treuhand an große Agrarkonzerne, die ökonomische Krise von Bauern, hier eines Milchbetriebs und eines Biogaserzeugers, die Diskriminierung und mangelnde Respektierung von Landwirten und schließlich die Umweltfreundlichkeit der Produktion von Biogas.

Alles nicht oder wenigstens nicht ganz oder eben nicht mehr richtig, so wie es im Roman steht, meint die TAZ.

Aber eins nach dem anderen:

Die wirtschaftliche Lage von Bauern

Die ökonomische Situation von Landwirten mag sich im letzten Jahr gebessert haben, weil sie bessere Preise erzielen können, das ändert aber nichts daran, dass landwirtschaftliche Betriebe unter großem Preisdruck stehen und dass es deshalb auch Betriebe gibt, die aufgeben. Das betrifft naheliegend vor allem kleine Betriebe etwa in Ostdeutschland, wo die Böden schlecht sind, vor allem dann, wenn noch Nachfolgeprobleme auftauchen. Ob eine Biogasanlage sich lohnt oder nicht, hängt von verschiedenen Variablen ab. Wenn etwa ein Biogasproduzent vor 2021 für sein Gas langjährige Lieferverträge abgeschlossen hat, aber ab 2021 mit starken Preiserhöhungen bei Stromverbräuchen rechnen muss, kann das existenzgefährdend sein. Biogasanlagen haben einen extrem hohen Stromverbrauch, und bei 2 Mio. kWh kann eine Verdoppelung des Arbeitspreises schon mal fatal sein.

Ausverkauf der Landwirtschaft

Dass die Treuhand seit 2022 den Ausverkauf von Bodenbeständen gestoppt hat, bestätigt eigentlich nur eine langjährige Praxis aus der Zeit davor. Man dem Text nun wirklich nicht vorwerfen, dass er das aufnimmt und als Missstand anprangert, zumal im fiktionalen Kontext.

Umweltfreundlichkeit von Biogas

Biogas wird in der Tat vorrangig von pflanzlichen Energieträgern gewonnen, was ggf. zur Verschlechterung der Nachhaltigkeit führen kann, wenn etwa der Anbau von Mais zur Verwertung in einer Biogasanlage zur Verdrängung von Futterpflanzungen führt, wie das die TAZ moniert. Das Thema Artenvielfalt kommt hinzu. Dem steht freilich gegenüber, dass die Verdrängungsthematik erst einmal hypothetisch ist und organisatorisch anders bewältigt werden könnte. Und ähnlich geht’s mit der Diversifizität. Im Grundsatz ist das Monitum wohl korrekt, aber ob sich was daran ändern lässt oder ob hier nicht diese eine Monokultur angeprangert wird, andere aber nicht, ist nicht ganz klar. Hinzu kommt auch, dass die Frage, ob die den Anbau von Energiepflanzen genutzten Flächen relevant sind, im TAZ-Text nicht beantwortet wird. Also auch nicht ganz so eindeutig, wie von der TAZ gemacht. Und vor allem, bleibt hier noch die Frage, was der Roman in seinem Erzählkosmos damit anfangen will.

Respekt für Bauern

Was das angeht, ist gegen solche Klagen kaum ein Kraut gewachsen, und Umfragen helfen da auch nicht viel, ebenso wenig Subventionen. Dabei muss eine solche Behauptung weder richtig noch falsch sein, sie passt halt nur gut in das Schema vom Stadt-Land-Konflikt, in dem dann das Land und erst recht die Bauern den Kürzeren ziehen. Das führt oft zu sehr lustigen Behauptungen, mit denen der mangelnde Respekt für diesen oder jenen belegt werden soll. Aber auch hier ist vor allem eines relevant, was soll das im Roman bewirken?

Was will der Roman (was wollen uns die Autoren damit sagen? Autsch)

Damit soll dem Roman nicht das Wort geredet, sondern nur dem vermeintlichen Faktencheck die Eindeutigkeit ausgetrieben werden. Denn auch wenn wir Romane gern für die Wirklichkeit nehmen und sie uns dabei auch helfen, sich darin zu bewegen, gehören sie eben dort nur als Kultur- und Wirtschaftsgut hin oder eben als Gegenstand von Kritikern bis Literaturwissenschaftlern. Zehs Roman ist damit, wenn überhaupt nur dann „falsch“, wenn er eine falsche Geschichte erzählt, nicht weil er sein Personal mit Ansichten ausstattet, die hinreichend verbreitet sind, die keine Faktenbasis haben (naja, was darunter zu verstehen ist).

Auf die Geschichte und deren Bezugnahme auf Gegenwart oder Realität käme es aber an. An Zehs Unterleuten hat sich das bereits gut erkennen lassen: Die Zurichtung von Realität im Roman dient einer Realitätsaufarbeitung, die intentional ist. Im einzelnen mögen die „Fehler“ oder Verschiebungen irrelevant sein (ist doch egal, ob ein Windpark in Unterleuten auf 10 Hektar gebaut wird oder nicht und ob da kleine oder große Anlage gebaut werden, wichtig ist nur, es geschieht gegen den Willen der Leute vor Ort und dient Einzelinteressen, und ist doch egal, ob eine Biogasanlage sich lohnt oder nicht, wichtig ist nur, dass die Leute im Roman das Projekt vor die Wand fahren und dass sie in Notlagen geraten), in ihrer Gesamtheit wird aber dann so etwas wie eine ideologische Erzählung daraus. Kein Roman kann sich davon freimachen. Im Grundsatz schaun wir die Welt immer an, wenn wir Geschichten in ihr spielen lassen (und nicht nur dann). Und nichts anderes ist Ideologie (nicht nur „falsche“ Weltanschauung). Um sie anschauen zu können, muss Realität zugerichtet erzählt werden. Romanautoren lassen weg, kürzen, verkürzen und schneiden zu. Alles, was sie erzählen, ist notwendig unterkomplex bis falsch. Aber es kommt dann darauf, wie man sich zu dieser Erzählung stellt und ob man sie für stimmig, plausibel und zutreffend hält. Und dabei kann die Art der Zurichtung, derer sich ein Roman befleißigt, aufschlussreich sein. Aber die Erkenntnis selbst reicht noch nicht aus, zu erkennen, ob einem die ganze Richtung denn passt oder nicht.


Heroisierung der Schutztruppe gegen das Vaterland?

Eine Gegenrede

5. Januar 2023

Elisabeth Hutter hat 2019 eine andere These entwickelt, als die zuvor vorgestellte, die letztlich betont, der Effekt von Frenssens sei die „Heroisierung der Schutztruppe“. Sie hebt dabei zwei Aspekte hervor:

1. Wie können die „aus den diversen Heimatregionen stammenden Soldaten als geeintes Kollektiv ihre Nation im Krieg“ verteidigen, und „welche Normen“ gelten „für dieses kriegerische Handeln“.

2. Wende sich Frenssen gegen die „Kritik und das Desinteresse der Daheimgebliebenen“ am Krieg in Südwest.

Frenssens Roman sei  ein „Gegenentwurf zum öffentlichen Bild der Schutztruppe“, den er nicht nur in Verkaufszahlen, sondern auch inhaltlich erfolgreich und nachhaltig platziert habe.

Der Vorteil dieser These ist, dass er den Erfolg von Frenssens Roman mit einem kohärenten, mit der ideologischen Ausrichtung Frenssens korrespondierenden Muster verbinden kann. Aufschlussreich und plausibel ist auch, dass die Wahrnehmung der Akteure als „Helden“, mithin die Heroisierung der Feldzugteilnehmer durch die Rezeption im Ausgangsland erfolgt. Held ist, wer als Held von den eigenen Leuten angesehen wird. Voraussetzung ist allerdings, dass er zum Selbstopfer bereit ist (oder lediglich um Opfer fällt).

Dafür muss sie freilich sämtlich widersprechende Passagen des Textes im Sinne ihrer These ausrichten. Dazu gehört, dass sie vor allem die naiven Anfangspassagen, in denen der Protagonist analog zu seiner sozialen Positionierung agiert und spricht, auf den gesamten Text anwendet. Die Fantasie vom schnellen, abenteuerlichen Auszug wird aber durch den Text nach und nach kassiert. Das Opfer ist zudem nicht im Kampf erbracht, sondern im Erleiden vor allem von Durst, Hunger und Krankheiten, die die Kolonialtruppen belasten. Die Feindkontakte werden nicht als Kollektiv durchgestanden, sondern vom Protagonisten allein, wie er auch dazu neigt, sich als Patrouillenreiter von der Truppe abzusetzen und allein zu agieren. Auch bleibt immer noch auffallend, dass die sozial nachgeordnete Position des Protagonisten erhalten bleibt. Nicht er erklärt die Welt, er lässt sie sich erklären – und sein Bekenntnis dazu bleibt auffallend dünnlippig.

Der Einwand, der vorzubringen ist, geht mithin dahin, dass sich Hutter das Material zugunsten ihrer These zurichtet, auch dann, wenn es dazu wenig geeignet ist. Eine Passage mag das zeigen, die gerade den Punkt berührt, der die Genozid-These zu bestätigen scheint, die mit dem Feldzug heute verbunden wird. Dafür entnimmt sie dem Text eine Passage, in dem der Vernichtungsbefehl von Trothas paraphrasiert wird:

„Da beschloß der General [Lothar von Trotha, Anm. EH], ihm [dem Feind, WD] dorthin zu folgen, ihn anzugreifen und zu zwingen, nordostwärts in den Durst und in den Tod zu gehen, damit die Kolonie für alle Zeit vor ihm Ruhe und Frieden hätte. (Frenssen, Peter Moor 171) „

Hutter kommentiert das folgendermaßen:

„Ihre Strategie der Vernichtung wird so als notwendige, endgültige Befreiung von den als lästig empfundenen Aufständischen präsentiert und ihre kollektive Täterschaft als Selbstopferung zum heroischen Akt stilisiert. Sie [die Kolonialsoldaten, WD] sind demnach sowohl Opfer der widrigen Begleitumstände als auch stolze Täter im Dienst der Nation.“ (S. 33)

Nun ist der zitierten Passage vor allem erst einmal eine militärische Strategie zu entnehmen, an deren Legitimität zu zweifeln ist. Allerdings ist aus der kolonialen Perspektive Rücksicht auf die aufständische Kolonialbevölkerung nicht vorauszusetzen. Aber der Passage ist eben nicht zu entnehmen, dass die Aufständischen als „lästig empfunden“ werden und dass die Aktivitäten der Kolonialmacht hier als „kollektive Täterschaft“ vorgestellt wird, die „als Selbstopferung zum heroischen Akt stilisiert“ wird. Denn weder wird hier ein Kollektivsubjekt vorgestellt, noch werden Befehl oder Strategie des Generals kommentiert, sie werden lediglich vorgestellt – wie alles, was hier über den Horizont des Protagonisten geht, zumeist nur vorgeführt und referiert wird. Was auf solche Passagen folgt, sind die Mühen des Heerzugs, der offensichtlich nicht auf die Bedingungen vor Ort abgestellt ist. Die deutsche Kolonialmacht und deren Befehlshaber werden eher als inkompetent, denn als herrschaftsbewusst oder heroisch vorgestellt. Auch die herbsetzende Behandlung einzelner Kameraden des Protagonisten, die sich im Heerzug rehabilitieren wollen, zeugt weniger von einer gelungenen Kollektivbildung, sondern eher von einem militärische Apparat, der sich vor allem intensiv mit sich und seinen Statusproblemen beschäftigt.

Was im Umkehrschluss das Problem erzeugt, dass eine Kollektivbildung nicht wirklich zu gelingen scheint und die Heroisierung zwar angespielt wird, aber nicht im Vordergrund steht. Warum Frenssens Roman dennoch so erfolgreich war, lässt sich vielleicht – wenn nicht mit den Thesen Huttens oder analogen Denkmustern – mit der Positionierung des Protagonisten erklären, der ein hohes Identifikationspotenzial besitzt, und/oder mit der Offenheit des Textes, der eine heroische Lektüre ebenso erlaubt wie (sogar) eine pazifistische. Gegebenenfalls ganz gegen die Intentionen des Verfassers.

Elisabeth Hutter: „Was werden wir alles erzählen aus diesem Affenland!“ Die Schutztruppe als prekäres heroisches Kollektiv in Gustav Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“. Entnommen: DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2019/HK/04, S. 29-37


Wasser

Gustav Frenssens Roman über den Krieg der deutschen Kolonialmacht gegen die Herero: „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ (1906). Eine thesenhafte Anamnese

2. Dezember 2022

Die Differenzen bei der Einschätzung des Kriegs zwischen den deutschen Kolonialherren und den Herero im Jahr 1904 mögen grundsätzlicher Natur sein, in Gustav Frenssens Roman „Peter Moors Fahr nach Südwest“ (1906) ist aber weder fraglich, dass der Aufstand der Herero gegen die deutschen Kolonialherren gerechtfertigt, noch dass der Krieg gegen die Herero ein Vernichtungskrieg war. Allerdings spielt der Vernichtungsbefehl Lothar von Trothas im Roman keine Rolle, wie auch der triumphale Sieg, den von Trotha anscheinend nach Berlin meldete, nicht zentral ist. Auch feiert der Roman die Kolonialherrschaft nicht ab, legitimiert sie und damit das militärische Vorgehen gegen die Hereromänner und deren Familien, die sich der Kolonialmacht als Ganzes zu entziehen suchten. Die Erzählung lässt sich dazu nicht herab.

Hauptursache dafür ist, dass der Roman strikt aus der Perspektive einer nachrangigen Figur geschrieben ist, Peter Moor, Handwerkersohn, selbstverständlich national orientiert und ein wenig kompetenter oder weltläufiger Protagonist. Alles was erzählt wird, rekurriert darauf; der Großteil der politischen Positionen wird anderen Figuren zugeordnet und wird durch den Erzähler referiert, der vergleichsweise zurückgenommen, wenn nicht sachlich bleibt.

Daraus leitet sich zum einen die Erzähllinie ab, in der die Fahrt nach Südwest schnell erledigte Abenteuerfahrt erscheint, bei der die Aufständischen rasch niedergeworfen werden, um ansonsten unvergessliche Erlebnisse anzusammeln. Die Überlegenheit der Kolonialarmee ist selbstverständlich. Das wird auch nie suspendiert, bleibt aber ein auffallend wenig beanspruchter Faden in der Erzählung.

Die zweite Konsequenz ist die Darstellung von Schwarzen, die – bis auf die wenigen Hinweise auf die Schwarzen, die auf Seiten der Kolonialherren tätig sind, Treiber, Heizer etc. – durchgehend als „Feinde“ bezeichnet werden. Der Begriff „Neger“ wird nicht verwendet. Das ist insofern bemerkenswert, da in zeitgenössischen Texten ansonsten der Begriff auch bei Autor/innen, die nicht als reaktionär oder konservativ eingeschätzt werden, nicht problematisiert wird („Negermusik“, „Negertänze“ etc.).

Damit sind die Herero vor allem als Gegenseite gekennzeichnet, von der der Protagonist eben zum einen kaum etwas weiß, aber von denen er zum anderen auch kaum etwas anderes wahrnimmt, als das, was er bei den im übrigen wenigen Kampfbegegnungen wahrnehmen kann. Die Darstellung ist insofern nicht gerecht, sie ist schematisch und nicht ausdifferenziert, aber das ist eben die Konsequenz der Anlage des Textes.

Wenn den Schwarzen Qualitäten nachgesagt werden, dann halten sich quantitativ despektierliche (die Gewohnheiten der Heizer beim Essen, die Beschreibung, wie sie an Bord kommen, die despektierliche Benennung der Frauen als „Weiber“) und anerkennende (vor allem die Kampfkraft lobende) einigermaßen die Waage.

Die Repräsentanten der deutschen Kolonialmacht, die die Unterdrückung der Schwarzen legitimieren, werden kaum als ernsthafte Autoritäten gekennzeichnet (der Pfarrer, der die Überlegenheit der weißen Rasse predigt, der General, die Truppen paradieren lässt und die Messe anordnet, der Oberleutnant, der die Kolonialherrschaft legitimiert).

Hingegen wird der Legitimität des Aufstandes relativ viel Raum gegeben.

Die Gewalt gegen die Herero wird nicht verschwiegen, sie wird auch kaum verurteilt, sie wird hingenommen, vor allem bei den Hinrichtungen und Erschießungen, von denen berichtet wird. Die Gewalt, die der Protagonist selbst ausübt, löst bei ihm Ekel aus. Allerdings wird die Nachgeschichte des Kriegs nicht mitgeliefert, da der Protagonist das Spielfeld verlässt und heimkehrt.

Die Kampfhandlungen selbst sind auf zwei bis drei Begegnungen konzentriert, die eher als Scharmützel gekennzeichnet sind, denn als Schlacht erkennbar werden. Der Hauptkampf, den deutsche Kolonialarmee und Herero kämpfen, ist der gegen den Wassermangel oder das schlechte Wasser, was zu Typhus und anderen Erkrankungen führt, die mehr Soldaten zu dezimieren scheinen als im Kampf fallen.

Die Anlage des Textes ist erstaunlich, vor allem aus dem Grund, dass Frenssens spätere Wendung zum Nationalsozialismus bekannt ist, spätere Texte („Glaube der Nordmark“) Frenssen als politisch Extremen kennzeichnen, was auch den Blick auf seine früheren Texte beeinflusst. Das wird durch die Widmung vordergründig noch bedient („Der deutschen Jugend, die in Südwestafika gefallen ist, zu ehrendem Gedächtnis.“). Auch scheint eine späte Wendung aus dem Gespräch Moors mit dem Oberleutnant darauf zu verweisen, dass er den Sinn von Kolononialherrschaft und Krieg nunmehr – endlich – versteht: „Ich hatte während des Feldzugs oft gedacht: ‚(…) Die Sache ist das gute Blut nicht wert.‘ Aber nun hörte ich ein großes Lied, das klang über ganz Südafrika und über die ganze Welt und gab mir Verstand von der Sache.“ Keine Frage, eine offen imperiale, auch koloniale Einsicht, kurz vor Ende der Erzählung, die durch ihre singuläre Stellung hervorsticht, in dem einen wie dem anderen Sinn.

Denn das Narrativ des Textes weicht ansonsten davon ab, es ist eben nicht rassistisch, die Aufwertung der Europäer, die Abwertung der Afrikaner und die Legitimierung der Kolonialherrschaft stehen nicht im Vordergrund, ist nicht einmal ein selbstverständlich Fonds, auf dem sich die Erzählung bewegt. Der Text ist statt dessen sondierender, offener und wenig festgelegt.

Gustav Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest. Berlin: Grote 1906 (mit zahlreichen Nachauflagen)