Wann hört Demokratie auf?

Milo Rau beklagt in der TAZ den Verrat der Grünen

6. Oktober 2021

Das Verhältnis politischer Bewegungen zur Demokratie ist immer dann auf die Probe gestellt, wenn sie bei Wahlen – gegen jede Erwartung – nicht erfolgreich genug sind, soll heißen zu stärksten Kraft herangewachsen sind, die alle anderen verdrängen und zur Bedeutungslosigkeit verurteilen können. Das zeigt sich zuletzt in einem Essay Milo Raus in der TAZ vom 5. Oktober 2021, in der er das Ergebnis der Bundestagswahl nicht zum Anlass nimmt, darüber nachzudenken, wie denn eine ökologische Partei bei Wahlen erfolgreicher werden kann, sondern – angesichts der als aussichtslos und tödlich ausgezeichneten Situation – Taten von den „Aktivist*innen Europas“ fordert. Die Grünen schreibt er ab, weil sie sich zu Vorgesprächen zu Koalitionsverhandlungen entschieden haben. Das Selfie der Grünen- und FDP-Verhandlungsführer aus der Sondierung kanzelt er als „Verrat“ ab. Die Wahl wird als „Move der Mächtigen“, der dem Machterhalt dient, und zugleich als politische Verdrängungsleistung“ diskreditiert.

Als Resultat der Wahl sieht Rau eine Bestätigung des Status Quo, mithin eine Zuspitzung der ökologischen Krise, die zum Handeln zwingt, weil die Alternative der Untergang zumindest der ärmeren Teile der Menschheit wäre: „Die Lage ist nicht ‚spannend‘, also dramatisch, sondern ausweglos, also tragisch.“

Damit trägt Rau eine alte Dichotomie politische Handelns weiter fort, in der Wahlen, also das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung, und politischen Handeln, also das interessegeleitete Aushandeln von Handlungsmöglichkeiten und deren Umsetzung, schlicht suspendiert werden. An deren Stelle wird die Eindeutigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, an der keine Abstriche zulässig sind, und die Notwendigkeit gesetzt, die politische Klasse, die Mächtigen („das System“) zu beseitigen, für die der Machterhalt im Vordergrund steht.

Was in Raus Essay fehlt ist die Konsequenz seiner Suspendierung von Politik und Wahl – nämlich eine ökologisch grundierte Diktatur, die einzig als handlungsfähig angesehen wird. Der Hebel zu deren Umsetzung ist der politische Massenprotest. Die Handlungsbevollmächtigten eines solchen Systems werden aus aus der Massenbewegung heraus rekrutiert und womöglich auch durch sie legitimiert. Abweichende Positionen werden nicht berücksichtigt oder im Laufe des Prozesses bereinigt. Was weitere Konsequenzen fordert, in deren Zentrum die unbedingte Handlungsfähigkeit des Systems steht.

Keine Frage, dass politische Massenproteste im demokratischen System ihren legitimen Ort haben. Aber ebenso wenig ist fraglich, dass die Umsetzung politischer Ziele, zu denen der ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft gehören, ein langwieriger und schwieriger Prozess ist, der mit vielen, eben auch widerstreitenden Interessen rechnen muss. Bequemlichkeit ist da nicht gefragt, und dazu gehört die vollmundige Diskreditierung von Politik und Wahlergebnissen ebenso wie die Fokussierung auf die demonstrierenden Massen als entscheidender Faktor. Die Mühen beginnen immer erst, und Unbedingtheit weder ein guter Ratgeber noch ein praktikables Handlungsprinzip.