Unzuverlässige Erzähler

Dürfen Autor/innen reale Geschichten als Vorlage nehmen?

7. Oktober 2021

In der TAZ berichtet Emili Glaser von einem Text einer amerikanischen Autorin (Kristen Roupenian), der Gegenstand einer bemerkenswerten Diskussion geworden ist. In diesem Text („Cat Person“) wird die Liaison eines älteren Mannes (Robert, 34, irgendwas) mit einer „deutlich jüngeren Frau (Margot, 20, Studentin) erzählt, die kräftig daneben geht. Die Story hat wohl im Kontext der #Metoo-Diskussionen für einiges Aufsehen gesorgt, und – folgt man dem Bericht in der TAZ vom 5. Oktober 2021 – auch der Autorin zu einigem Ansehen verholfen. Der New Yorker hatte den Text im Dezember 2017 gedruckt, auf der website ist er immer noch nachzulesen (https://www.newyorker.com/magazine/2017/12/11/cat-person).

Im Juli des Jahres erschien nun der Text einer anderen Autorin, Alexis Nowicki, in der dieser bekennt, nicht nur sich im Text Roupenians wiedererkannt zu haben und nicht nur ihren an Covid verstorbenen ehemaligen Partner namens Charles, sondern auch ihre Geschichte, allerdings mit einigen Verschiebungen, die ihr nicht gefallen haben oder denen sie zugesteht, mit der eigenen Geschichte nichts zu tun zu haben. Das Problem besteht zudem nicht nur darin, dass sie sich als Vorlage erkannt hat, sondern auch darin sie sich nicht erklären kann, woher Roupenian derart viele Details ihrer Geschichte kennt. Und dass sie sich öffentlich entblößt fühlt.

Was daran schwierig sei, die eigene Beziehung in einer Short Story aufgezeichnet und erinnert zu sehen, sei dass nun Millionen Menschen diese Beziehung so kennen, wie sie eine Fremde beschrieben habe, schreibt Nowicki am Ende ihres Essays (zu finden unter bei slate.com unter: https://slate.com/human-interest/2021/07/cat-person-kristen-roupenian-viral-story-about-me.html). Wie sie dann herausgefunden hat, haben sich Roupenian und dieser Charles im übrigen tatsächlich gekannt, was zu der schnurrigen Volte führt, dass die Grundlage der aus der Perspektive Margots geschriebenen Story eine Geschichte ist, die ihr ein Mann über wenigstens den Beginn einer Beziehung erzählt haben mag.

Und schon beginnt eine Debatte darüber, ob Kunst das darf, zum einen, reale Personen zum Vorbild zu nehmen, und zum anderen die Geschichte so zu fassen, dass sie deutlich von der Vorlage abweicht, was aber nichts hilft, wenn sich Leute vorher in den Vorlagen wiedererkannt haben.

Merkwürdig daran ist, dass sich Leute tatsächlich in Texten anderer wiedererkennen, dass sie sich abgebildet fühlen, dass sie – mehr noch – sogar glauben, in diesen Texten vorzukommen. Die Autorinnen, die in der TAZ-Ausgabe von Dienstag zu der Diskussion Stellung nehmen, lassen das wenigstens durchweg erkennen.

Denn auch wenn man es mit der Autonomie der Kunst nicht hat – Kunst kann und soll ja etwas mit dem wirklichen Leben zu tun hat – ist ihr fiktionaler Charakter, ja ihre – hochtrabend formuliert – ontologische Differenz zum Leben unübersehbar. Und noch eins drauf: Auch wenn reale Vorlagen nicht zu umgehen sind, darf Literatur zugleich keine realen Personen verletzen, da ist man heute pingelig. Wie das gehen soll, wenn sie sich dauernd wiedererkennen wollen, weiß man nicht. Denn sich in literarischen Texten wiedererkennen zu wollen, ist eine sehr aktive Entscheidung, die darüber hinweggehen muss, dass Texte in der Regel nicht präzise genug sind, um eine Wiedererkennbarkeit zu ermöglichen und zudem Figuren textlich umschreiben müssen, und nicht abbilden. Eine Beschreibung wie: Ein großer, schlanker Mann mit grauem Haar, blauen Augen, zwischen 55 und 65, grenzt bestenfalls einen phänomenologischen Typus ein, mehr aber auch nicht.

Wie also erkennt Nowicki (und anscheinend einige ihrer Freunde), dass die Story von Roupenian von ihr handelt? Ein zwei Blicke also:

Was sie von der Geschichte zwischen ihrem Ex und sich erzählt, lässt Parallelen erkennen und Abweichungen. Es ist vor allem der Anfang der Story im Kino, das Auftreten beider (flirtende junge Verkäuferin, stieseliger Kunde), der Umstand, dass der Mann groß ist, einigermaßen ansehnlich, aber ein bisschen übergewichtig, sein Tatoo, die Handlungsorte („my workplace, my hometown, his appearance, the location of our firstdate“, schreibt Nowicki an einer Stelle, an einer anderen kommen einige Details hinzu, vor allem was den Kleidungsstil angeht, die gerahmten Poster, eine Spielesammlung im Haus Roberts/Charles). Außerdem weist sie auf einige Details hin, die stark an ihre Geschichte mit Charles erinnern, sein kryptischer Kommunikationsstil, wie sie selbst ihn habe beeindrucken wollen, die Blödeleien um ihre Katzen, die sie über ihre Smartphones austauschen, sogar der Ort ihres ersten Zusammentreffens, ein Multiplex-Kino, komme vor, und dass sie beide nicht vor dem ersten Date berühren. Das sind immerhin einige Auszeichnungen, die aber immer noch derart unspezifisch sind, dass es einiger Anstrengung bedarf, sich oder diese Geschichte darin wiederzuerkennen.

Immerhin hat Nowicki einiges Misstrauen in Roupenians Eingeständnis, dass sie von Charles und Nowickis halbwegs skandalöser Geschichte (älterer Mann, junge Frau mit allem, was dazugehört) wusste, die Details aber aus den Social Media entnommen habe und daraus ihre Story entwickelt habe. Es sind immerhin einige Details, die sie stören, aber auch das hängt wohl mehr mit der Prämisse zusammen, dass hier ihre Geschichte von jemandem erzählt wird, der dazu kein Recht hat.

Dem steht allerdings entgegen, dass der Verlauf der Story anders ist als der zwischen Nowicki und Charles: Die Story beendet die Beziehung in dem Moment, in dem sich Robert entkleidet. Margot schläft zwar noch mit ihm, was offensichtlich nicht genussvoll ist. Sie macht das trotzdem, unter anderem weil der Aufwand, sich jetzt noch aus der Sache rauszureden, größer wäre, als sie durchzuziehen (wie im Text zu lesen ist). Aber danach ist Schluss, alles was dann noch folgt, sind Abschlussgefechte, in denen sich beide keine Lorbeeren verdienen, aber das kann man auch lesen wie man will. Die Schlussstexte von Robert, die Margot nicht mehr beantwortet, zeigen ihn jedenfalls von einer ziemlich miesen Seite. Die Story endet in einer wüsten Beschimpfung Margots durch Robert als Hure, während sich Kirsten und Charles erst nach einiger Zeit trennen und noch bis zu seinem Tod Kontakt hatten. Was unter bösen Freundinnen und Freunden zu der Frage führt, weshalb nicht Margot bei Robert, sondern Kristen so lange bei Charles geblieben ist. Der denkwürdige Subtext bei Nowicki ist denn auch. Nebenbei bemerkt, das permanente Misstrauen in das Verhältnis der jungen Frau zum älteren Mann, das ja auch wenigstens der Anreger für Roupenians Story war. Ein solches Verhältnis ist verdächtig, bietet Gegenstand für Vermutungen und hat im Kontext der Missbrauchsvorwürfe in hierarchischen Gefällen wenigstens einen bedrohlichen Unterton. Aber was das angeht, sind wir dann in der wirklichen Welt und ihren Auszeichnungen angelangt.

Im Grundsatz  aber und jenseits davon, dass wir alle unzuverlässige Erzähler sind, wie ja auch Nowicki weiß, liegen die Unterschiede zwischen der „realen“ Geschichte Nowickis und der Story Roupenians vor allem darin, dass das eine eine Erinnerung transformiert in einen biografischen Text, das andere aber eine Kurzgeschichte ist, also Erzählungen, die unterschiedliche Positionen in der Lebenswelt haben. Selbst also wenn die eine, die fiktionale Erzählung, die andere, die biografische zur Grundlage nimmt, macht sie doch was anderes draus. Nowickis Erzählung zielt auf etwas anderes ab als die Roupenians. Aber darüber hinaus: So wie beide jetzt vorliegen, ist Nowickis Erzählung vor allem ein Kommentar zu der Roupenians, der vor allem moniert, die wahr Geschichte falsch erzählt zu haben, was immer das sein soll.