5. Oktober 2016
Schlechte Zeit für Lyrik. Und welche absurde Debatten heute: In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „Lettre“ findet sich ein Essay des 1996 verstorbenen griechischen Dichters Odysseas Elytis‘ über verschwundene Empfindsamkeit in der Gegenwart, die er mit einer Klage über die Zunahme von Bildung und Wissen verbindet. All das verschütte das Vermögen sich zu wundern und vor sprachlichen Bildern erstaunt stehen zu bleiben, gar von den Rätseln des Lebens zu verweilen. Brillenträger, die Anordnungen erlassen. Grobschlächtigkeit des Wissenserwerbs. Man muss sich schon wundern, wozu sich ein Dichter herablässt, damit klar wird, was er Besonderes ist.
Wohin uns das führt? Zurück ins Wunderland der Poesie? Wohl nicht. Stattdessen sind Essays wie der des griechischen Literaturnobelpreisträgers eher dem Eingeständnis geschuldet, dass die schöne Literatur, die Lyrik, die Poesie an Bedeutung immer mehr verliert – unaufhaltsam. Damit mag man sich in den kleinen Zirkeln, die dann noch übrig bleiben, wohlfühlen – immer den Rest der Welt gegen sich. Und als Mitglied einer verschwindenden Art mit besonders schönen Alleinstellungsmerkmalen versehen geht es sich wohl ganz besonders schön unter.
Aber die Ursache dafür liegt nicht bei der Bildung, bei den Brillenträgern, bei der Ökonomie, beim Kapitalismus und der Moderne, und auch nicht bei der Mehrheit, die sich einzurichten versucht, sondern bei den Repräsentanten der Poesie selbst. Weil sie die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft scheuen, in der sie leben, weil sie sich missachtet sehen, schließen sie sich aus und ein, in der Empfindsamkeit, im Sprachgefühl, in der Form.