Über den Martensteinschen Ausnahmezustand

11. März 2019

Harald Martenstein hat sich im Zeitmagazin vom 14. Februar 2019 einer gedanklichen Übung unterzogen. Er hat, wie er einräumt, das Prinzip „Triage“, das Rettungssanitäter anwendeten, auf die Behandlung von „Gefährdern“ übertragen, also von Zuwanderern, die kein Asyl bekommen und „nachweislich selbst gefährlich“ sind.

Das Prinzip Triage beschreibt er folgendermaßen: Rettungssanitäter, so Martenstein, konzentrierten sich bei Unfällen darauf, den Opfern zu helfen, bei denen sich der Einsatz „lohnt“, die also so stark verletzt sind, dass ihnen geholfen werden muss, aber nicht so stark, dass die Hilfe eh nichts mehr nutzt. Leicht Verletzte werden ebenso ignoriert wie Verletzte, bei denen Hilfs nichts mehr nutzen würde.

Nun scheinen seine folgenden Überlegungen auf einer ähnlichen Logik zu basieren: auf einer Güterabwägung, hier zwischen der Gefährdung des „Gefährders“ und der Gefährdung des Opfers. Martenstein wägt aber nicht ab, ob Hilfe nützlich wäre, sondern ob ein „Gefährder“ dieselben Rechte auf Schutz vor Gefahr hat wie ein „Opfer“. Und da sagt Martenstein, wenn ich ihn richtig verstehe: Nein.

Nun krankt sein Vergleich an folgendem Problem: Diese Prinzip Triage ist auf eine Situation zugeschnitten, die von folgenden drei Elementen bestimmt ist: 1. eine große Zahl an Fällen, 2. zu geringe Ressourcen an Helfern und Material und 3. Zeitknappheit. Zeitknappheit habe ich deshalb als gesondertes Problem behandelt, weil es die Ressourcenknappheit an Mensch und Material verschärft. Gäbe es kein Zeitproblem, wären die Elemente 1 und 2 nicht so schlimm, dan würde man einfach einen Fall nach dem anderen behandeln und gut wär. Aber Zeitknappheit heißt, dass, um erfolgreich handeln zu können, mehr Leute und mehr Material notwendig wären, um allen helfen zu können. Das Prinzip Triage ist also ein Prinzip, das im Ausnahmezustand angewendet werden muss, um die Zahl der Opfer so klein wie möglich zu halten.

Nun muss die Entscheidung, ob ein „Gefährder“ ausgewiesen werden muss resp. sollte oder nicht, nicht in einer Situation gefällt werden, die von einer übergroßen Zahl, von Mangel an Ressourcen und Zeitdruck bestimmt wird. Sie wird in einer einigermaßen regulären Situation gefällt, eben nicht im Ausnahmezustand. In ihr können, genauer: müssen Kriterien wie Angemessenheit, Gleichbehandlung, Rechtssicherheit und auch Kosten ganz allgemeiner Art angewendet werden.

Vergleichbar wären die Entscheidungen, wenn sie gleichermaßen im Ausnahmezustand gefällt werden müssen. Das Verfahren aber, das ein Sanitäter am Unfallort wählt, um überhaupt helfen zu können, ist aber anders legitimiert als ein Verfahren, in dem es darum geht, ob ein Zuwanderer, der kriminell geworden ist oder als Gefährder eingestuft worden ist, ausgewiesen werden sollte, auch wenn er durch die Ausweisung selbst wieder gefährdet wird. In beiden Fällen mag man zu ungerechten Urteilen kommen, in dem einen Fall hat man aber keine Zeit und keine Wahl, in dem anderen aber schon. Und wo man Zeit hat, gibt es keinen Grund, ein rechtsstaatlich gebotenes Verfahren aufzuheben, das unter anderem verfügt, das jeder Mensch dieselben Rechte hat, auch ein Täter, der nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.

Hinzu kommt, dass sich Martenstein seine „Gefährder“ und „Opfer“ zurechtlegt.
Etwa indem er einen Zuwanderer, der ein verurteilter Straftäter ist, mit einem Gefährder gleichsetzt.
Das ist aber nicht korrekt.

Ein Gefährder ist erst einmal jemand, von dem die Behörden annehmen oder auch mit Sicherheit sagen können, dass er verfassungsfeindliche bis hin zu terroristische Taten plant. Bei einer Person, von der man annimmt, dass sie als Leibwächter von Usama bin Laden tätig war, kann man das vielleicht mit Recht sagen. Aber dies ist – wenn keine weiteren Hinweise und Belege hinzukommen – bestenfalls eine Annahme, die sagt: Wer einmal sich auf diese Seite gechlagen hat, wird diese Entscheidung nicht mehr revidieren. Was in diesem Zusammenhang eine „nachweislich gefährliche Person“ ist, bleibt offen. Aber der Umstand, dass eben die Gefährdung nachgewiesen werden sollte, ist schon Hinweis genug.
Was im übrigen auf die eigene Geschichte angewendet, ganz weitreichende Konsequenzen hätte, aber das nur nebenbei.

Ein verurteilter Straftäter hingegen ist erst einmal etwas ganz anderes, er ist ein verurteilter Straftäter. Ob die Straftat einen terroristischen Hintergrund hat oder ob banaler Ladendiebstahl dahintersteht, ist damit nicht gesagt. Man kann wohl auch davon ausgehen, dass ein verurteilter Straftäter seine Haft absitzt und dann entweder freigelassen oder abgeschoben wird. Wobei die Abschiebung mit anderen Rechtsgütern kollidiert, was es eben nicht einfach macht. Auf jeden Fall darf man einem Straftäter, der seine Haft abgesessen hat, erst einmal unterstellen, dass er damit seine Tat gebüßt hat. Damit ist es nicht immer getan, aber in den allermeisten Fällen anscheinend schon.
Straftaten, wie sie durch Presse gehen, sollen hier nicht bagatellisiert werden (darunter sind ja immerhin einige Fälle, in denen Leute umgebracht wurden), aber auch unter Zuwanderern befinden sich nicht nur Straftäter, und unter zugewanderten Straftätern nicht nur Mörder oder eben die vielangesprochenen Intensivtäter.

Aber zurück zum Gefährder: Gefährder und verurteilte Straftäter sind also nicht dasselbe. Was eben zu dem Umstand führt, dass ein sogenannter Gefährder auch „frei herumlaufen“ kann, wie das Martenstein formuliert (wie er das macht, wenn er eine „nachweislich gefährliche Person“ ist, weiß ich nicht). Was wohl heißen soll, dass man dem Gefährder einen konkreten Verstoß gegen die Rechtsordnung nicht nachweisen kann. Was will man tun? Den Mann sicherheitshalber trotzdem schnell rausschmeißen?

Interessanterweise hieße das nämlich, dass man einem Zuwanderer lediglich nachsagen müsste, dass er ein „Gefährder“ ist, und schon muss ich ihn ausweisen, weil ich anderenfalls riskiere, dass er tatsächlich entweder Terrorist oder Krimineller ist. Nichts einfacher als das. Martenstein geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er nämlich mit einem Mal von einer „potenziellen Gefahr“ spricht, die von einem Gefährder ausgehe. Von dem Gefährder geht also keine Gefahr aus, sondern eine potenzielle Gefahr. Und wenn ich abwägen muss zwischen der potenziellen Gefahr, der ich ihn aussetze, indem ich ihn in ein unsicheres Land ausweise, und der potenziellen Gefahr, der ich meine Mitbürger aussetze, indem ich ihn im Land lasse, weiß ich, was ich zu tun habe: raus mit ihm.

Nur zur Erinnerung, der Sanitäter am Unfallort, schützt keine Leute vor einen potenziellen Gefahr oder rettet sie potenziell, sondern tut sein Möglichstes, um Leben von so vielen wie möglich zu retten. Vielleicht gelingt ihm das, vielleicht nicht. Aber die Situation und sein Handeln sind sehr konkret. Das Handeln von Behörden gegenüber „potenziellen“ Gefährdern ist weit entfernt von einer solchen Konkretheit. Allein schon deshalb, weil ja nicht nur jeder Zuwanderer eine potenzielles Gefahr darstellt, sondern auch jeder Hiesige. Ob die einen mehr und die anderen weniger, ist zwar auch noch nicht gesagt, aber das diskutiert Martenstein überhaupt nicht. Statt dessen schmeißt er erstmal in seinen Überlegungen alle raus, die reinwollten. Für eine Zivilgesellschaft mit der deutschen Vergangenheit ist das nicht akzeptabel. Wenn man ihn beim Wort nehmen würde, wärs auch fatal für die Gesellschaft insgesamt. Was soll der ganze Scheiß mit Grundrechten, wenns um „potenzielle“ Gefahren geht. Und sind wir nicht alle potenzielle Gefährder? Statistisch gesehen schon.