Trümmerliteratur

Ein Interview von Luca Lonato Maske mit Walter Delabar

4. Mai 2019

Luca Lonato Maske: Mit Trümmerliteratur wird keine Epoche im eigentlichen Sinn benannt, sondern die kurze Zeit zwischen Kriegsende und dem Beginn der 1950er. Was zeichnet diesen kurzen Zeitabschnitt grundsätzlich aus?

Walter Delabar: Also, es ist sehr schwierig, für diesen Begriff überhaupt den Epochenbegriff zu verwenden. Mit Trümmerliteratur beschreibt man eine bestimmte Gruppe von Texten, die nach dem Krieg, also nach 45, entstanden oder veröffentlicht worden sind. Der Begriff selbst stammt sowieso erst aus dem Jahr 1949, ist von Wolfgang Weyrauch geprägt worden, in einem Buch, das kein Mensch gelesen hat, weil es eigentlich fast nicht verkauft worden ist – ich glaube, es hatte eine verkaufte Auflage unter 100 in der ersten Saison. Also, es spielt schon eine Rolle, aber ist eigentlich für die Zeitgenossen kein Begriff gewesen, den sie für diese Form von Literatur verwendet haben. Insofern sagen wir mal so: Nein, der Begriff bezeichnet keine Epoche. Er ist eigentlich auch nicht  verwendet worden. Wir verwenden den Begriff heute, wie auch „Nullpunkt“ oder anderes, für eine bestimmte Literatur oder für einen bestimmten Ansatz in der Literatur dieser Zeit, ohne dass er großartig in der Zeit verankert gewesen wäre. Das ist auch in Ordnung, weil wir das ja in vielen Fällen machen, aber man muss sich darüber im Klaren sein: Es gibt einen ganzen Haufen anderer Literatur in dieser Zeit, der mit diesem Phänomen, der Trümmerliteratur, der Heimkehrerliteratur, des Nullpunkts, nichts zu tun hat.

Der Ansatz der sogenannten Trümmerliteratur wird sehr eng geknüpft an die Gruppe 47. Der Ansatz der Gruppe 47 ist, zu sagen: „Wir müssen tatsächlich das literarische Sprechen – die Gruppe 47 hat sich auf das literarische Sprechen konzentriert – nochmal neu ansetzen.“ Das ist eine Form von Neuer Sachlichkeit oder Neorealismus, der nach dem Krieg aufgenommen worden ist und der gegengesetzt ist zu der ideologiegeladenen Literatur des Dritten Reiches aber auch der Literatur der Jahre davor, die auch international ja nicht nur bei der Neuen Sachlichkeit geblieben ist, sondern auch andere Phänomene oder andere Arten, Stilformen gekannt hat. Es gab etwa eine Neorenaissance von, sagen wir, eher pathetischer Literatur. Und dagegen grenzen sie sich sehr stark ab. Sie wollten Literatur neu erfinden, von unten aufbauen. „So sieht die Literatur eben aus: einfache Sätze, einfache Themen.“ Zumindest ist das erstmal der konzeptionelle Ansatz. Was daraus geworden ist oder wie die Texte dann aussehen, ist ein anderes Thema.

Luca Lonato Maske: Und welche Themen und Motive haben die Trümmerliteratur bestimmt?

Walter Delabar: Das wird eben sehr oft an bestimmten Texten festgemacht. Die Trümmerliteratur, die Heimkehrerliteratur, das wird in diesen drei Themen Kriegstrümmer, Nullpunkt, Heimkehrer immer wieder mal festgemacht. Die Trümmerliteratur beschreibt eine Gesellschaft in Trümmern, die Heimkehrerliteratur beschreibt die Heimkehrsituation und der Nullpunkt beschreibt den Neuanfang nach 45, also auch den Zwang, neu anzufangen, weil das nationalsozialistische Regime humanitär, politisch und sozial, eine extreme Katastrophe für Deutschland gewesen ist. Verantwortlich zu sein für diesen Krieg, verantwortlich zu sein für den Mord an der jüdischen Bevölkerung in Europa, verantwortlich zu sein für die extremste Form von rassistischem, faschistischem Regime in Europa, das ist eine Bürde, die man auch erstmal zu tragen lernen muss. Die Autoren in dieser Zeit haben versucht, dies dadurch zu lösen, dass sie ,Literatur neu anfangen. Das ist zumindest der Versuch. Ob der dann gelungen ist, ob die Texte dann passen, ob man das akzeptieren kann, ist tatsächlich wieder eine zweite Frage.

Auffallend ist: Es ist kein deutschsprachiges Phänomen, sondern ein deutsches Phänomen. Österreich ist davon nicht beeinflusst, auch die umliegenden europäischen Länder sind davon nicht beeinflusst. Die haben andere Ansätze, andere Formen der Verarbeitung des NS-Regimes, soweit sie auf der Täterseite daran beteiligt oder auf der Opferseite davon betroffen waren. Wie auch immer: Die literarischen Reaktionen sind sehr unterschiedlich, aber dieses Phänomen Heimkehrer-, Nullpunkt-, Trümmerliteratur, das ist ein Phänomen, das vor allen Dingen Deutschland betrifft und deutsche Literatur betrifft.

Luca Lonato Maske: Zur Trümmerliteratur werden auch einige Werke gezählt, die noch zu Kriegszeiten in Gefangenenlagern verfasst und in Form von Lagerzeitschriften verbreitet worden sind. Inwiefern unterscheiden sich diese Werke der Gefangenschaft von den frühen Trümmerwerken?

Walter Delabar: Da muss man deutlich unterscheiden. Die Autoren, die in den Lagerzeitschriften geschrieben haben, zu denen ja auch Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Kolbenhoff und andere gehört haben, haben zu dieser Zeit eigentlich journalistische Literatur, also reflexive Texte, geschrieben, die als zeiteingreifende Texte gedacht waren. Der Ruf beispielsweise ist eine Gründung aus Lagerzeitschriften und dann später als zivile Zeitschrift weitergeführt worden. Das ist eine politische Zeitschrift, die sich auf der Suche nach einem sogenannten Dritten Weg, ein Ansatz, der immer wieder neu aufgekommen ist, gemacht hat. Die Literatur nach 45, zumindest soweit sie sich als Nullpunkt-, Trümmer- oder eben Heimkehrerliteratur versteht, ist etwas völlig anderes. Also insofern ist das, was in den Lagern passierte oder an Lagerliteratur in den Lagerzeitschriften publiziert wurde, tatsächlich Journalismus, der versucht, sich auch mit der besonderen, mit der spezifischen Situation der Lagerinsassen, der Soldaten, die als Täter des Unrechtsregimes des Nationalsozialismus an einem der größten Kriege überhaupt, die die Welt bis dahin erlebt hatte, beteiligt waren, zu beschäftigen. Die mussten mit dieser Täterrolle erstmal fertig werden. Die mussten aktiv versuchen, sich in irgendeiner Form weiterzuentwickeln, da was draus zu machen, ohne dass sie in dieser Täterrolle aufgingen. Das ist tatsächlich als eingreifendes journalistisches Schreiben zu verstehen. Literarische Texte sind da eher nachrangig. Die Literatur, die mit der Gruppe 47 zusammenhängt, also Richter und Andersch vor allen Dingen, ist mit der sehr bewussten Entscheidung „Weg vom journalistischen Schreiben, hin zum literarischen Schreiben“ verbunden und das steht eben in Zusammenhang mit der Gründung der Gruppe 47 im Jahre 47. Unabhängig davon sind zahlreiche Texte, die direkt nach dem Kriegsende erschienen sind, in der Tat auch vorher geschrieben worden, nur konnten sie zum Teil nicht mehr publiziert werden – Literatur von Wolf von Niebelschütz beispielsweise, Elisabeth Langgässer oder anderer Autorinnen und Autoren, die in der Zeit vor 45 zum Teil schon produktiv waren. Günter Eich beispielsweise hat ja lange vorher schon geschrieben, ist ja ein alter literarischer Akteur zu dem Zeitpunkt. Viele von denen, die dieser neuen Literatur nach 45 zugerechnet werden, haben auch vorher schon in einem gewissen Umfang literarische Karrieren. Eich reißt da so ein bisschen nach vorne raus. Andere wiederum gehören eigentlich nicht zur Gruppe 47, zur neuen Literatur nach 45, sondern sind Fortsetzungen der literarischen Konzepte von vor 45. Elisabeth Langgässer, Gustav René Hocke – wenn man sich deren Texte anschaut, ist da von Nullpunkt, Trümmerliteratur, nichts zu sehen.

Luca Lonato Maske: Welche ausländischen Stileinflüsse waren denn die wichtigsten während der Phase der Trümmerliteratur?

Walter Delabar: Die wichtigsten sind wohl die amerikanischen short stories, was damit zusammenhängt, dass die Autoren der Trümmerliteratur sehr viele Kurzgeschichten geschrieben haben. Das wiederum hängt damit zusammen, dass die Literaturszene, der Literaturbetrieb, in den späten 40er Jahren, also 45 bis 49, bis zur Währungsreform, sehr stark von Zeitschriften bestimmt war. Es gab  eine höchst produktive Zeitschriftenszene, die dann 49 fast vollständig zusammengebrochen ist. Der Literaturbetrieb hat sich danach sehr stark geändert und ist dann wieder stärker in Richtung Buch gegangen, aber bis 49 ist die Dominanz der Zeitschriften sehr groß. Dazu gehört nicht nur Der Ruf, sondern es gibt zahlreiche andere Blätter, in denen die Autoren publizieren konnten, und wie das halt mit so einer Zeitschrift ist, die tut sich mit Romanen schwer. Die Romanfortsetzung ist eher ein Phänomen der Zeitung und nicht der Zeitschrift und die literarischen Zeitschriften haben ja viele kurze Texte publiziert. Die story hat sich dann ausdrücklich auf diese Form konzentriert, die eben aus den USA übernommen worden ist und dort schon eine lange Tradition hatte. Es gibt Einflüsse aus dem Französischen. Bei Heinrich Böll beispielsweise, der für meinen Geschmack literarisch immer sehr unterschätzt wird, halten sich diese französischen und die amerikanischen Einflüsse in der Waage. Das sind so die wichtigsten Einflüsse, die aus dem Ausland kamen, wenn es darum geht: „Wo haben die denn geschaut?“ Interessanterweise gibt es keinen, zumindest offenen, Bezug zur Neuen Sachlichkeit, der ja naheliegen würde, aber das mag wiederum damit zusammenhängen, dass große Teile oder einige Autoren, wie Langgässer oder Eich, ja aus dem Teilbereich der Neuen Sachlichkeit kommen, den wir als Magischen Realismus beschreiben. Aber die Autoren haben institutionell und schreibtechnisch eben mit der Neuen Sachlichkeit nichts zu tun. Dass der Begriff überhaupt auf sie angewandt wird, geht darauf zurück, dass der Begriff Neue Sachlichkeit aus der Malerei übernommen worden ist, und die Malerei hat halt zwei Teilbereiche, den Verismus und dann den Magischen Realismus. Für meinen Geschmack funktioniert das bei der Literatur nicht. Und wenn man sich überlegt, dass Eich dann einer der wichtigsten Repräsentanten der Trümmerliteratur wird, aber eigentlich aus dem Magischen Realismus kommt, dann haut das nicht hin.

Luca Lonato Maske: Und in welchen Formaten wurden die ersten Werke der Trümmerliteratur gedruckt?

Walter Delabar: Es gibt ein bisschen Lyrik. Es gibt die beiden berühmten Gedichte von Eich, also Latrine oder Inventur, aber vor allen Dingen ist die dominante Form die Erzählung, die dann als short story kommt. Es gibt ja die Novellenform und es gibt die short story-Form. Es geht sogar so weit, dass Heinrich Böll hingegangen ist und einen seiner ersten Romane in Erzählungen aufgeschnitten hat und Anfang der 50er Jahre mit Wo warst du, Adam? einen Roman geschrieben hat, der auf einzelnen Erzählungen beruht, die dann durch eine Hauptfigur oder mehrere Hauptfiguren, aber auch durch die Abfolge verbunden werden, aber als Romanform tatsächlich ganz anders gestrickt ist, als das bei einem durchgängig geschriebenen Roman der Fall wäre. Bei Der Engel schwieg beispielsweise, ein Roman, der sogar erst posthum erschienen ist, ist bekannt, dass Böll den Roman auseinandergenommen, weil er ihn als Roman vor 49 nicht unterbringen konnte, und den dann als Erzählung, kleingehackt, publiziert hat. Die Erzählungen kannte man, aber nicht den Roman.

Luca Lonato Maske: Und welche Medien wurden im Endeffekt verwendet, um sie zu verbreiten?

Walter Delabar: Zeitschriften. Zeitschriften, Zeitschriften, Zeitschriften. Sie haben teilweise Auflagen von 100.000, 200.000 erzielt, die dann von späteren Zeitschriften nicht mehr erreicht wurden. Die haben dann zum Teil sechsstellige Auflagen gefahren. Und das waren ja nicht nur eine, das waren ja dutzende Zeitschriften, die publiziert worden sind. Der Ruf hat ja beispielsweise auch eine hohe sechsstellige Auflage in seiner extremsten Verbreitung gefunden. Die Dominanz der Zeitschriften liegt aber auch ein bisschen daran, dass die Zeitschrift ja ein Medium ist, das in dieser Sondersituation nach 45 – also ein altes System bricht zusammen, auch die Infrastruktur bricht zusammen, es kommen die ganzen Soldaten zurück – flexibler ist als das Buch. Für einen Roman brauchst du halt länger. Die Publikationsvorbereitung dauert länger, Druck und Verbreitung haben mehr Voraussetzungen.

Luca Lonato Maske: Und wie wurden diese Zeitschriften, aber vielleicht auch andere Medien, verbreitet?

Walter Delabar: Der Buchhandel funktioniert sehr schnell wieder. Der Buchhandel ist ja auch nicht an große institutionelle Strukturen gebunden. Das Problem sind die Druckereien vorne und nicht die Distribution über den Buchhandel. Der Buchhandel ist da, wo er ist. Die haben ihre Läden, die bleiben bestehen und die verkaufen Bücher und Zeitschriften. Der Druck auf den Buchmarkt oder auf den literarischen Markt war damals tatsächlich sehr hoch, weil von der Literatur ja sehr viel an Gestaltungsvorgaben gefordert wurde: Was müssen wir jetzt tun? Was können wir noch tun? Was ist richtig oder falsch? Die Leute haben sich ja tatsächlich auch der Kultur stark zugewandt. In den ersten Maitagen haben in Berlin schon die ersten Konzerte wieder stattgefunden in Konzertsälen, die fast in Trümmern lagen und die Leute sind an die Universitäten geströmt, weil sie auf einmal, befreit von diesem alten Regime, aber auch befreit von der Sicherheit, die das geboten hat, Orientierungsbedürfnisse hatten und geschaut haben: „Was ist die Welt überhaupt? Und wie geht das jetzt alles? Wie sollen wir denn damit klarkommen?“ Und deswegen hat die Literatur, hat die Kultur ja auch auf einmal so einen hohen Stellenwert bekommen.

Luca Lonato Maske: Die Kurzgeschichte gilt ja als die eigentlich beliebteste Erzählform der Trümmerautoren. Wieso eigentlich?

Walter Delabar: Das hat institutionelle Gründe, glaube ich. Es liegt aber auch ein bisschen daran, dass die kürzere Form in der Erzählung tatsächlich auch den kürzeren Atem braucht – besonders in der Situation, in der man ja keine befestigten Lebenszusammenhänge hat. Die Leute kamen entweder zurück oder lebten in Trümmern und mussten halt irgendwie schauen, dass sie zurechtkamen. Sie haben natürlich auch einen großen Teil ihres Lebens, ihres Alltags, organisieren müssen. Man musste erstmal an Essen und Wohnung denken, vor allen Dingen im Winter. Der Winter 46 musste eine Katastrophe gewesen sein. Wir haben ja wie nach dem Ersten Weltkrieg danach extrem viele Kältetote und Krankheitstote wegen der Unterernährung gehabt. In eienr solchen Situation da hast du nicht die Zeit, jeden Tag acht Stunden lang am Roman zu schreiben. Da ist die Kurzgeschichte halt schneller händelbar. Und sie entspricht vielleicht auch der Situation besser. Wenn man sich eben Böll anschaut, auch mit den späten Romanen, merkt man tatsächlich, dass diese Beobachtung, diese mikroskopische Beobachtung, die in der Kurzgeschichte ja möglich ist, erlaubt, dass man sich dann einzelne Handlungen, einzelne kurze Figurationen, Personen, die miteinander umgehen, anschaut und schaut: Was machen die jetzt in der Situation? Dann hat man den stillen Antifaschisten mit dem lauten Antifaschisten und dem Nazi da auf einmal nebeneinander. Was machen die denn in der Situation, wenn denen gerade die Decke über dem Kopf zusammenfällt, weil die unter Granatenbeschuss stehen? Das ist erstmal vielleicht eine künstlich hergestellte Situation, die aber für die Zeit alltäglich gewesen ist. Und daraus entwickeln die Autoren bestimmte Konzepte. Wenn man dann Emigrantenliteratur oder Literatur von Leuten, die nicht in Deutschland leben und die Situation so nicht kennen, anschaut, dann merkst du auf einmal, dass die tatsächlich von diesem Alltag weiter entfernt sind. Es gibt einen Hotelroman von Vicki Baum. Der ist, glaube ich, von 42 oder 43, Hotel Berlin heißt der, wenn ich mich recht erinnere, und ist jetzt noch einmal neu erschienen und da man trotz all der interessanten Beobachtungen und Beschreibungen, die Baum macht, schon den Eindruck, sie ist weit weg von dem, was da tatsächlich passiert in der Zeit.

Luca Lonato Maske: Ist vielleicht auch ein Grund, dass die Kurzgeschichte durch Zeitschriften einfach leichter verbreitet werden kann?

Walter Delabar: Das kommt da natürlich hinzu. Was nutzt mir der große Roman, wenn er nicht gedruckt werden kann? Vor allen Dingen weil ich ja den Kontakt zu den Verlagen nicht habe. Das ist ja auch eine der wichtigsten Aufgaben der Gruppe 47 gewesen, dass sie so eine Art Talentschmiede oder Talentsucherorganisation gewesen ist, die auch den Verlagen die Gelegenheit gab, mal die Leute überhaupt anzuschauen und einen persönlichen Kontakt herzustellen, bevor man die Texte schon eingekauft hatte. Man musste dann erst mal nicht den 300-Seiten-Roman lesen, sondern hatte dann schon mal eine erste Auswahl: „Passt der zu uns oder passt der nicht?“ Weil dann auch schon Text, Person und Umgänge mit Personen zusammenpassten.

Luca Lonato Maske: Und welche grundlegenden stilistischen Strömungen gab es innerhalb der Gruppe der Trümmerautoren?

Walter Delabar: Naja, es sind eigentlich relativ wenige Texte, die direkt stilgebend sind. Von Günter Eich die beiden Texte oder wenn man sich Tausend Gramm von Weihrauch anschaut, ist da eigentlich fast nichts, was zu dieser Trümmerliteratur so wirklich passt. Der größte Repräsentant ist für uns immer Heinrich Böll, der aber ein Solitär ist und meines Erachtens, was seine Einbindung in die Literatur- und Kulturgeschichte angeht, unterschätzt wird. Wenn man sich seine Texte anschaut, sieht man, dass er an eine lange literarische Tradition andockt und sie auch verarbeitet, in einer sehr eigentümlichen, aber eben auch in einer sehr intelligenten Weise. Darüber hinaus gibt es verschiedene Ansätze, was heißt, es gibt große Probleme, eine konsistente Gruppe von ähnlich schreibenden Autoren auszumachen.

Außerdem gibt es ein großes Qualitätsgefälle: Wenn ich die ersten Kolbenhoff-Texte anschaue, die kann man heute einfach nicht mehr lesen, weil die einfach stilistisch so ungelenk sind. Richter gehört auch nicht zu den großen Stilisten. Richter hat selbst zahlreiche Romane geschrieben. Dass Böll, was das angeht, überlebt hat, ist nicht ganz ohne Grund. Die Günter Eich-Gedichte sind im übrigen auch im Werk Eichs Solitäre. Seine anderen Gedichte unterscheiden sich deutlich von seinenbeiden exemplarischen Trümmergedichten, vor allem in den 50er Jahren. Gut, Borchert ist eben Heimkehrerliteratur. Bei Draußen vor der Tür kommt er zurück und kann nicht mehr zurückkommen, weil er nicht mehr integriert werden kann.

Aber im Grunde ist jeder Autor, jede Autorin für sich zu betrachten, wie das bei einer literarischen Strömung fast immer so ist.  Die Epochenbegriffe sind einfach erst einmal nur Orientierungshilfen. Sie sind und bleiben grob und unangemessen.

Luca Lonato Maske: Wie manifestierte sich der sachliche Wahrheitsanspruch der Trümmerautoren im Gegensatz zu der hochemotionalen, ideologischen Schreibweise der NS-Zeit?

Walter Delabar: Ich weiß gar nicht, ob die Nazis wirklich so hoch emotionalisiert waren. Die waren hoch ideologisiert, soweit es echte NS-Autoren waren, aber die gab es ja tatsächlich relativ selten.

Der Unterschied ist der, dass die Nachkriegsautoren tatsächlich versucht haben, das Pathos aus den Texten rauszukriegen. Denn Pathos ist ein sehr wichtiges Stilmittel der Heroisierungstendenzen innerhalb der sogenannten Nationalsozialistischen Literatur, also das Opfertum, der Einzelne, der sich nicht für das Kollektiv, sondern für die Nation hingibt. Da hat das Pathos eine große Funktion. Die Nachkriegsautoren haben auch versucht, sehr stark in Richtung genauerer Beobachtung zu gehen und Alltagsbeobachtungen und mikroskopische Aufnahmen aufzunehmen. Ob das immer gelungen ist, muss man bezweifeln. Böll reißt da zum Beispiel wieder völlig raus. Und ansonsten:  Borchert, Böll, Kolbenhoff und Richter, und Andersch sowieso, die kriegst du alle nicht über einen Kamm geschoren.

Luca Lonato Maske: Die Autoren der Trümmerliteratur stellten an sich selbst ja den Anspruch, die Realität der Zeit direkt nach Kriegsende ungetrübt und wahrheitsgemäß abzubilden. Wie beeinflusste dies eigentlich die Lebensweise der Autoren? Zum Beispiel durch den Anspruch, mitten zwischen den Dingen des Alltags zu leben und sie so direkt zu erfahren, anstelle sich ins eigene Kämmerchen zurückzuziehen.

Walter Delabar: Das mit dem Kämmerchen ist immer so eine Sache. Das Kämmerchen gab es ja so nicht mehr. Wenn man sich überlegt, dass Köln zu 70 Prozent zerbombt war und große Teile Berlins dadurch, dass es industrielles Gebiet gewesen ist, zerstört waren, gibt es das stille Kämmerchen erstmal so nicht. Es gibt keine Autoren, mit ein paar Ausnahmen, die sich tatsächlich so aus dem Alltagsgetriebe hätten rausziehen können. Funktioniert erst mal nicht, weil die Infrastruktur das nicht hergibt.

Luca Lonato Maske: Mit den Jahren der Trümmerliteratur wuchsen ja auch deren Autoren. Warum endete die Phase der Trümmerliteratur eigentlich schon nach wenigen Jahren?

Walter Delabar: In gewissem Sinne endet sie ja nicht. Böll schreibt noch lange an dem Thema weiter, bleibt aber Gegenwartsautor und verändert damit auch die Szenerien, die er seinen Romanen gibt. Irgendwann muss auch Schluss sein mit Krieg und Heimkehr. Aber sein Grundthema bleibt: Wie kann eine neue Gesellschaft entstehen, und wie kann sie aussehen. Er gibt die Hoffnung, was das angeht, auch nicht auf. Das bleibt ja sein durchgehendes Motiv, dass es eine menschliche Gesellschaft auch unter solch extremen Bedingungen geben können muss.

Dennoch haben die Währungsreform 49 und die Gründung der beiden deutschen Staaten, die Rekonstituierung Österreichs weit reichende Folgen. Die führt dazu, dass sich die Autoren, aber auch die Gesellschaft selbst, neuen Themen und neuen Verfahren zuwenden. Die Gruppe 47 beispielsweise fängt um 1950 an, sich von diesen Ursprüngen, die ja nur drei Jahre vorher als Grundsatz gelegt worden sind, weiterzuentwickeln, und nimmt andere literarische Strömungen auf, was man eben an Autorinnen und Autoren wie Ingeborg Bachmann, die 51 schon auftritt, wenn ich mich recht erinnere, und Ilse Aichinger, die dann als zweite den Preis der Gruppe 47 bekommt, sehen kann. Das sind ja keine Trümmerautorinnen mehr, sondern Autorinnen, die Strömungen der Moderne aufnehmen und verarbeiten. Dafür hat sich die Gruppe 47 tatsächlich geöffnet. Dass die meisten Exilautoren, aber auch Arno Schmidt beispielsweise, kein oder wenig Echo gefunden haben, liegt sicherlich auch daran, dass sich der Literaturbetrieb in den 1950er Jahren wieder sehr stark aufgefächert hat. Es gibt die konservativen Autoren, Bergengruen, Andres, Schneider, aber eben auch zahlreiche andere Autoren. Unter deren Druck weichen die früheren Autoren der Gruppe 47 ja auch sehr stark in den Hörfunk aus – Andersch beispielsweise wird Rundfunkredakteur – und sie nehmen eine neue literarische Form auf, die dann die Renaissance des Magischen Realismus in Hörspielen mit befördert hat. Also, es gibt ökonomische Gründe, es gibt kulturelle und politische Gründe, nicht zuletzt die Verfestigung der Trennung der beiden deutschen Staaten und die Neugründung Österreichs. Die Leute haben sich in den 50er Jahren wieder verstärkt mit dem Thema beschäftigen, wie denn Literatur auch weiterentwickelt werden kann. Es treten ja auf einmal wieder Phänomene auf, die lange verschüttet waren. Auch die Moderne, die Avantgarde werden wieder reflektiert und als literarische Phänomene auf einmal wieder möglich, in Österreichetwas durch die Wiener Gruppe.

Luca Lonato Maske: Was ist denn das Besondere an Heinrich Bölls Werken während der Trümmerliteratur?

Walter Delabar: Erstmal ist er tränen- und rührselig ohne Ende. Das ist ja immer das, was man ihm besonders nachträgt. Er wirkt so einfach, dabei sind die Texte von Böll extrem komplex. Er selbst hat produktionsästhetisch ja große Mühe mit den Texten gehabt, aber wenn man sich diese genau anschaut, merkt man bei seinen Texten, bis lange in die 60er Jahre hinein, dass er den Ton sehr gut trifft. Und das liegt eben daran, dass er nicht nur Erfahrungen verarbeitet, sondern dass er in die Konstruktion dieser Texte sehr vieles aus der Literaturgeschichte miteinfließen lässt. Ich habe vor einiger Zeit Wo warst du, Adam? nochmal angeschaut, mit einem überraschenden Ergebnis.  Anscheinend hat sich noch niemand damit beschäftigt, was es heißt, dass Böll Erzählungen so schreibt, dass man sie zu einem Roman zusammenfügen kann. Nicht einen Roman so schreibt, dass man den in Erzählungen auseinanderstückelt, sondern andersherum. Und das ist etwas, was außergewöhnlich ist. Außergewöhnlich ist auch der Blick von Böll, meines Erachtens, auf die Kernfigur sozialen Lebens, auf das Verhältnis von Mann, Frau und gegebenenfalls Kind, das bei ihm extrem hoch aufgeladen wird, nämlich als der Kern einer Gesellschaft, die offen und ehrlich und angemessen miteinander umgeht. Wenn denn schon die große Politik nichts anderes ist als verdeckter Massenmord oder ein offenes Unrechtssystem, dann muss wenigstens im zwischenmenschlichen Bereich noch irgendetwas möglich sein. Sind da die Verhältnisse auch so, dass die Einzelnen nicht mehr zueinanderkommen können, ist das als Versagen von Gesellschaft beschreibbar. Das Versagen der Gesellschaft liegt eben darin, dass es eigentlich Gesellschaftlichkeit unterbindet. Da werden also Paare gefügt, die danach wieder auseinandergerissen werden und umkomme. Bei Der Zug war pünktlich oder auch Wo warst du, Adam? steht ja am Ende tatsächlich der Tod der Protagonisten. Warum steht der da? Ist das einfach nur, um auf die Tränendrüsen zu drücken, oder hat das eine konzeptionelle Bedeutung? Ich sage, das hat eine konzeptionelle Bedeutung: Wie kann trotz dieser Destruktion durch diese zerrütteten Strukturen so etwas wie echte Kommunikation und echter Zusammenhalt, aber auch Solidarität, funktionieren? Das funktioniert tatsächlich über die persönliche Verpflichtung. Und das ist etwas, was Böll sehr stark macht.

Luca Lonato Maske: Und was ist das Besondere an Günter Eichs Werken?

Walter Delabar: Das Besondere an Günter Eichs Werken in der Trümmerliteratur ist, dass er eigentlich nicht dazugehört. Gut, ich schaue mir halt Latrine an und habe am Ende ein Hölderlin-Zitat, was man aber erst einmal wahrnehmen muss und das auf einen anderen Textteil verweis: Wo die Gefahr am drohendsten ist, wächst das Rettende auch. Wenn Eich einen solchen Text zitiert, aber vorher den Blick von Donnerbalken, von der Latrine, über ein Flussufer auf die andere Seite zeigt, also quasi den Blick Hölderlins in dieses französische Tal, einen Blick in die französische Landschaft, imitiert, und zwar nicht angeblich nur so eine Art von Bestandsaufnahme macht, dann verdeckt sich dahinter sehr viel an Kapazitäten, an literarischer Erfahrung, die unter dem Muster „Ja, das ist Trümmerliteratur“ eben verdeckt bleibt. Das ist eben nicht einfach nur so dahingeschrieben, von unten nochmal neu aufgebaut, sondern das ist eine sehr bewusste Konstruktion, die versucht, die Extremsituation, nämlich das Reduzierte auf das rein Körperliche zu formulieren – der sitzt und kackt. Was Privateres, Intimeres, was aber derart offengelegt ist, gibt es nicht. Das lyrische Ich sitzt nämlich auf einem Donnerbalken, es sitzt quasi in der Öffentlichkeit, eine Erfahrung, die ja im Krieg viele haben machen müssen. Es sitzt da und hat auf einmal eine ästhetische Erfahrung. Der Widerspruch zwischen dem Hässlichen, dem Übelriechenden, dem Schlechten und dem Schönen wird hier in einem Bild aufgehoben. Und das ist etwas, was man bisher an den Texten so nicht wahrgenommen hat. Das sollte man sich vor Augen halten. Bei Böll ist das genauso. Es gibt diese Böll-Struktur ja genau so in Wo warst du, Adam? Da hat jemand Krämpfe und wird durch diese Krämpfe daran gehindert, zu fliehen, und kommt in einem Artillerieangriff um. Die Leute werden auf die Kreatürlichkeit zurückgeführt und müssen von da aus quasi ihr normales, ihr menschliches Potenzial wiederaufbauen. Und das finden sie tatsächlich im Schönen der Literatur. Aber es wird in den Texten auch deutlich, dass sich beide Seiten, das Hässliche und Schöne, in einer Dauerspannung befinden, die  nicht mehr auflösbar it. Der Nationalsozialismus, der die Gesellschaft bis auf die Einzelnen zurück auf deren Körperlichkeit reduziert, was in der symbolischen Aktion des Sitzens auf dem Donnerbalken oder des Verendens unter Darmkrämpfen im Granatenhagel ja vorgeführt wird, diese Reduktion zeigt auf, dass du immer in dieser Spannung zwischen schön und hässlich, zwischen dem Bösen und dem Guten, gebunden bleibst und dass du da nie rauskommst. Das ist vielleicht die Konstruktion oder der Anspruch, den Eich hat, der meines Erachtens völlig ignoriert worden ist. Bei Inventur hast du ja auch nur: „Ich habe das und das und das und das.“ Aber mehr wird ja angeblich nicht darüber gesagt. Aber auch da kann man gucken und schauen, wie dieser Text tatsächlich mehr in den kulturellen Bereich eingreift, als man es erahnt.

Luca Lonato Maske: Die Trümmerliteratur und auch einige ihrer Autoren haben ja teilweise einen schlechten Ruf. Wieso, denken Sie, ist der entstanden?

Walter Delabar: Der schlechte Ruf? Böll leidet darunter, dass der immer so tränenselig ist. Selbst die Böll-Forscher sagen ja eigentlich, was die Literatur angeht: „Moralisch höchst integer. Er hat leider so schlechte Texte geschrieben.“ – was Blödsinn ist. Die lesen die Texte einfach nicht mehr, weil sie von dem moralischen Anspruch dieses Übervaters geblendet werden – Böll ist ja einer der wichtigsten moralischen Orientierungspunkte der frühen 70er Jahre gewesen. Die heutigen Böll-Forscher sind ja quasi seine Zeitgenossen oder deren Nachkommen und lassen sich von dieser moralischen Fassade blenden und schauen die Texte nicht mehr an. Ähnlich ist es bei anderen Texten, die ja ganz bewusst stilistisch reduzieren und deswegen auch so hart sind, teilweise auch Fehlgriffe bei der Sprachverwendung zeigen. Bei Borchert ist das zum Beispiel überhaupt nicht so, aber eben bei Kolbenhoff und seinen ersten zwei Romanen: Das kannst du überhaupt nicht lesen, weil es so unbeholfen, so „unpsychologisch“ ist und wie auch immer. Das ist eben noch nicht ein Roman, das ist eben nicht die psychologisierende Literatur, die tatsächlich 20 Jahre später kommt. Und nicht früher. Was das angeht, hat man tatsächlich einen Anspruch an diese Literatur, den sie nicht erfüllen kann, den sie auch gar nicht erfüllen soll. Und dann fallen die natürlich durch den Rost und dann interessiert man sich nicht. Aber es kommt eben nicht darauf an, ob wir die Texte wertschätzen, sondern es kommt darauf an, welche Funktion sie in ihrer Zeit haben. Und in ihrer Zeit hatten sie eine.

Das Interview führte Luca Lonato Maske, Schüler des Bundesgymnasium Porcia, Spittal/Drau, Austria, im Rahmen seiner Vorwissenschaftlichen Arbeit am 18. Aufust 2018 in Berlin.