What you see is what you get …

13. Mai 2019

In der „Zeit“ vom 2. Mai 2019 wird das Schreiben einer jungen Frau abgedruckt, die sich – 21 Jahre alt, mittelmäßige Noten, nicht eben sportlich – für talentlos hält und deshalb verunsichert ist. Was nachvollziehbar ist. In einer Welt voller Alphatiere, die auch noch von Superheldenfilmen überschwemmt wird, ist es ein blödes Gefühl, einfach in der Masse unterzugehen. Es kommt vielleicht auf einen selbst nicht an.

Dieses Schreiben wird in einer Rubrik gedruckt, die sich „Frag mich mal“ nennt und von einer Instanz namens Ella bespielt wird. Frau Dr. Sommer nur in allgemein, vielleicht, aber wer hat was gegen Aufklärung?

Nun, diese Ella beantwortet die Unsicherheit der „Talentlosen“, wie sie zeichnet, damit dass sie erst einmal Einverständnis herstellt, einmal weil sie eingesteht, selbst unter diesem Gefühl gelitten zu haben und zu leiden, und zum anderen weil sie betont, dass man dieses Gefühl wohl nie wirklich los werde. Zuviele um einen herum, die von Talenten überschwemmt sind und dies auch nicht verheimlichen.

Im nächsten Schritt behauptet Ella, dass sie nicht glaube, dass die Schreiberin wirklich talentlos ist, nicht weil in jedem von uns Talente schlummern (vielleicht zum Häuserraufklettern etc.), sondern weil die Gewissheit, Talent zu haben, weitgehend eine Frage des Selbstbewusstseins, wenn nicht der Autosuggestion ist.

Bis dahin, alles gut, und gut gemacht, denn wenn man sich zum Beispiel hoch gelobte Autorinnen und Autoren anschaut, schreiben sie oft genug ziemlich schlecht. Was zwar wiederum ein Geschmacksurteil ist, aber es lässt sich begründen und dann darüber streiten. Was wir daraus lernen ist, dass es zum einen darauf ankommt, dass man eine Sache macht, auch wenn man sie (für einige) nicht gut macht, weil man sie machen will, und zum anderen darauf, ob sie von anderen akzeptiert wird. Ein schönes Beispiel und so willfährig ist Donald Trump, der sich für so ziemlich alles, was in der internationalen Politik falsch läuft, heranziehen lässt. Er hat Präsident werden wollen, er macht seine Sache – finde ich – ziemlich schlecht, es wäre wohl ein Leichtes, eine kleine Liste der Dinge zusammenzustellen, die er schlecht macht, aber es gibt Leute, die ihn toll finden und ihn vielleicht sogar ein zweites Mal wählen.

Was am Ende für die arme Schreiberin auf den Rat hinausläuft, einfach das zu tun, was sie gern macht und zu schaun, was dabei herauskommt. Wenns keinen interessiert, auch egal. Und wenn sie am Ende Verwaltungsangestellte im Mittleren Dienst wird und abends meist vor dem Fernseher hockt, ist das auch nicht weniger wert als ein Leben im kreativen Kreuzberger Prekariat, um mal ein bisschen zu polemisieren. Soll heißen, wenns denn beim Talentlosen bleibt, kommts nur noch darauf an, ob man mit seinem Leben zufrieden ist. Wenn ja, isses gut, wenn nein, muss man eben was anders machen. Wenns danach noch schlimmer ist, gehts halt immer weiter etc.

Was macht aber nun Ella?
Nachdem sie nun Einverständnis hergestellt hat und auch noch auf die Autosuggestion verwiesen hat, was den Rat einschließt, mehr an sich zu glauben, fügt sie eine Genderthese ein, die darauf aufbaut, dass die Schreiberin von ihrem Freund erzählt hat, der ungeheuer kreativ sein soll.
Allerdings sagt Ella nicht, dass das ein Genderthema ist, sondern listet Geschichten und einen Verweis, folgt also etwa folgenden Argumentationsschritten, soll heißen, folgt einer rhetorischen Strategie:

  1. Der Freund ist vielleicht gar nicht so kreativ, sondern in seinem Leben nur „mehr gefeiert“ worden.
  2. Es gebe Studien, die sagen, dass „Mütter schon bei Wickeln mehr Bohei um ihre Söhne machen als um ihre Töchter“. Das bleibe nicht ohne Folgen, soll heißen, Jungs haben im Schnitt mehr Selbstwertgefühl, weil mans ihnen vermittelt, selbst wenn es keinen Anlass gibt.
  3. In der Schule gehe das so weiter: „Mädchen sollen funktionieren und nicht auffallen, schon gar nicht auffallen. boys will be boys“, was immer das heißen mag. Abr e sgeht in die Richtung, dass Jungs Sensation machen und kriegen, während Mädchen dafür gescholten werden uns es dann lassen.
  4. Dann folgt die Geschichte von dem Jungen in der Kita des Freundes von Ella, der voller Stolz vom Klo kommt und darauf besteht, dass alle seinen Haifisch bewundern, den er gekackt hat. Bestimmt hätte auch Ella sich mit ihm gefreut, gesteht sie, aber lässt das nicht stehen, sondern lässt ihre letzte Volte folgen:
  5. Denn für jeden Jungen, der einen Haifisch kackt, gebe es irgendwo ein Mädchen, das sich dafür schäme, dass es stinkt, wenn es das Klo verlässt.
  6. Und das ärgere sie, Ella, „maßlos“.

Anschließend folgen dan in zwei Absätzen gute Ratschläge an die junge Frau, die in etwa dem entsprechen, was oben steht: Mach das, was Dir Spaß macht, mach nicht das runter, was Du kannst, feiere Dich ein bisschen etc.

Aber lassen wir das, sondern kommen auf die Gendervolte zurück, mit der Ella eigentlich ihre eigenen Ratschläge mit einer Weltthese überbaut. Dabei sind es vier rhetorische Schritte, die sie geht:

  1. Der allgemein gehaltene Verweis auf Wissenschaft (Studien, die sagen…)
  2. Allgemein gehaltene Thesen zu den geschlechtsspezifischen Ansprüchen an Kinder in Kita und Schule.
  3. Selbst erlebte, oder wenigstens glaubhaft berichtete Geschichten, die Thesen und Verweise konkretisieren.
  4. Die Bewertung.

Zu 1:
Ein Verweis auf Studien, die irgendetwas sagen, ist der Versuch, eine halbwegs tragfähige Basis dafür zu finden, was im Folgenden kommt. Allgemein gehalten sind sie weder belegbar, noch kann man sie abstreiten. Sie stehen für sich im Raum – neben vielen anderen, die auch irgendetwas sagen. Aber sie stehen nun mal da und geben sich als mächtiges Basis aus.

Spar ich mir einen solchen Verweis, steh ich mit dem, was kommt, auf eigenen Füßen, was nicht immer die festesten sind. So aber kann ich einen „plausiblen“ und vor allem belegten Bezug zwischen wickelnden Müttern und aufmerksamkeitsheischenden Jungs herstellen. Was das wiederum mit Selbstbewusstsein zu tun hat, ist offen, denn meist attestiert man solchen Jungs eher etwas anderes, nämlich dass es ihnen an Selbstbewusstsein fehlt (deshalb reklamieren sie ja Aufmerksamkeit).

Hinzu kommt im übrigen, dass die Veranwortung für solche Persönlichkeitsprofile unter der Hand den angeblich tendenziell Jungs-Bohei-machenden Müttern zugeschoben wird.

Zu 2:
Jungs sind Jungs, Mädchen sollen funktionieren, sollen nicht auffallen und ekeln sich für den Geruch ihrer Ausscheidungen (was ein eigentümlicher Komplex ist)? Und zwischen Wickeltisch und Schule ändert sich da nichts? Gegenbehauptung: Weder Jungs noch Mädchen entsprechen dem. Es gibt überbordende Jungs und Jungs, die sich nichts zutrauen, und es gibt Mädchen, die über ihrer Untertanen herrschen und solche, die keinen pieps machen. Es gibt Kinder, die sich über ihre Produkte freuen, und andere, die sich vor dessen Gestank erkeln. Gewöhnlich kommt regelmäßig das erste zuerst, dann folgt das zweite, was aber die Faszination nicht mindert. Das Argument von der Entsprechung des Hai-kackenden Jungen mit dem Mädchen, das sich ekelt, behauptet eine Typologie, die sich selbst Plausibilität unterstellt. Die angeblich talentlose Frau wird mit dem sich ekelnden Mädchen gleichgesetzt, der Hai-kackende Junge mit deren Freund. Ich weiß nicht, was passiert, wenn sie das merkt.

Zu 3:
Selbst erlebte Geschichten sind fatal, sie sichern durch persönliches Zeugnis im konkreten ab, was zuvor im allgemeinen formuliert worden ist. Das Problem, dass die Geschichte vom Hai-kackenden Jungen nicht selbst erlebt, sondern aus zweiter Hand ist und damit eben nicht „authentisch“, löst Ella, indem sie betont, dass sie den Jungen „sehr mochte“, soll 1. heißen, dass sie ihn persönlich kennt und 2. dass sie ihm gegenüber positiv eingestellt ist, also keine Vorbehalte hat. Was sie über ihn berichtet, ist also verlässlich, heißt das, weil nicht aus Widerwillen erzählt, sondern trotz Wohlwollen. Eine einigermaßen funktionale rhetorische Operation. Denn erzählt wird eine Geschichte, deren Essenz der Widerwillen gegen die Selbstvergwisserung von Jungs ist.

Einen weiteren Störer in der Geschichte ignoriert Ella allerdings, denn der Bericht stammt von ihrem Partner, der seinerzeit in einer Kita arbeitete. Mitarbeiter/innen einer Kita aber sind dafür ausgebildet, die ihnen anvertrauten Kidner zu fördern und ihnen eine positive Resonanz zu geben, wenn sie sich anbietet. Und es mag für einen mitteleuropäischen Erwachsenen in den Vierzigern merkwürdig sein, aber zu kacken ist nun einmal eine der ersten humanen Möglichkeiten sich auszudrücken, quasi die Urform der Kunst (ja, Schwitters sieht das anders, aber lassen wir das beiseite). Ein solches Kunststück (Hai) wäre aller Wahrscheinlichkeit in jeder einigermaßen aufgeklärten Kita von allen Erzieher/inne/n gegenüber jedem Kind egal welchen Geschlechts gebührend bewundert worden. Vielleicht in der betreffenden Kita deutlich mehr als in anderen, aber sicherlich wäre es in keiner Kita dazu gekommen, dass die Erzieher/innen dem Kind gesagt hätten, dass es bitte solche ekligen Sachen nicht so laut rausposaunen soll (vor allem wenns ein Mädchen wäre).

Der Gegenbeweis wäre eigentlich eine Geschichte vom Versuch eines Mädchens, sich entsprechend belobigen zu lassen. Diese Geschichte kommt aber nicht, kann auch nicht kommen, weil ja kein entsprechendes Bohei bei ihm auf dem Wickeltisch gemacht worden ist. Statt dessen ein schlechtes Gewissen beim Wickeln(?), denn woher kommt die Gewissheit, dass das Gegenstück zu dem Jungen mit Hai das Mädchen mit Schamgefühl nach dem Stuhlgang ist? Vielleicht weil dieses Muster nach dem vorherigen rhetorischen Operationen nicht mehr abgesichert werden kann oder muss (nicht kann, weil zwei Verweise auf Studien wären kleinkariert, und ggf. ist das Muster derart bekannt oder kann als bekannt gesetzt werden, dass es vorausgesetzt werden kann, es muss nicht mehr belegt werden).

Zu 4:
„Und das ärgert mich maßlos.“ Die Bewertung ist nicht das Ziel, sondern der Ausgangspunkt dieser Textpassage. Eigentlich spricht nichts in der von der Initialschreiberin erzählten Geschichte dafür, eine Gendergeschichte einzublenden. Ella nimmt aber die wenigen Ansatzpunkte (Schreiberin weiblich, Antipode männlich), um daraus ein Grundsatzmuster vorzustellen, in dem Frauen kein Selbstbewusstein und Selbstwertgefühl haben, weil sie nicht dazu erzogen wurden, während Männern genau das antrainiert wird, auch wenn sich die Talente beider Gruppen nicht grundsätzlich unterscheiden. Mehr noch, Frauen schämen sich für ihre Produkte, wenn man das Mädchen von irgendwo dazu nimmt, während Männer darauf stolz sind. Das aber ist eine ganz andere viel weiter tragende Geschichte als die davon, dass jeder genug Talent hat, um darauf stolz sein zu können. Und wenn nicht, dann trotzdem glücklich sein kann, weil für Glück Talent nicht nötig ist. Warum ärgert sich Ella aber maßlos über etwas, was sie selbst zuvor herbeigeschrieben hat? Weil genau das die Kunst der Rhetorik ist, etwas so zu formulieren, dass es glaubwürdig ist, auch für diejenige, die es verfasst hat?

Aber hier ließe sich auch weiterfragen: Warum baut Ella diesen Exkurs überhaupt in ihren Ratgebertext ein? Auch das ist nachvolziehbar: Ohne diese drei Absätze wäre der Text vergleichsbar banal, mit ihnen macht er aus einer kleinen Hilflosigkeit ein grundsätzliches Problem, das eben auch grundsätzlich gelöst werden mus. Und dafür reicht es eben nicht, Blumen zu pflanzen, die verdorren, Bilder zu malen, Texte zu schreiben, die keiner will. Dafür muss die Welt geändert werden, sagen wir, ausgehend vom Wickeltisch. Und außerdem kann man bei dieser Gelegenheit auch mal verärgert darüber sein, dass sich die Kerle für jeden Scheiß feiern lassen, auch für ihre Scheiße, was irgendetwas zwischen unerhört und widerlich ist – wenn da mal nicht das Mädchen durchscheint, das sich ekelt. Das aber ist eine Verärgerung, die nichts mit der talentlosen Schreiberin zu tun hat, sondern mit Ella, die im übrigen der Meinung ist, dass das Patriarchat zerstört werden muss. Wogegen nichts zu sagen ist.

PS: Aber hat Ella nicht recht? Möglicherweise, aber darauf kommt es hier nicht an, sondern darauf zu verstehen, mit welchen rhetorischen Mitteln Ella vorgeht, um ihre Botschaft zu vermitteln. Und für diese Mittel ist der Inhalt irrelevant. Es geht Ella auch nicht darum, eine seriöse Beurteilung eines Sachverhalts oder eines kulturellen Musters vorzunehmen, sondern einen witzigen, nachvollziehbaren und plausiblen Text vorzulegen. Der wird wiederum auf Akzeptanz bei denjenigen stoßen, die das Ganze ähnlich sehen, bei anderen eben nicht. Vielleicht gelingt es sogar, dass Leser/innen dem Textablauf folgen und sich am Ende an dem Punkt sehen, ihm zuzustimmen. Das ändert aber nichts daran, dass in diesem Fall die Rhetorik Vorrang vor dem Inhalt hat, das heißt ihn konstruiert, und zwar so, dass ihm kaum widersprochen werden kann, ohne dass es peinlich wird. Ist das so, könnte niemand Ella irgendeinen Vorwurf machen. Außer dass das Ganze nur möglicherweise stimmt.