Stopp! Peter Graf Kielmanssegg plädiert dafür, den Wandel zu bremsen

11. Mai 2016

Die FAZ ist, was das Führen von intellektuellen Diskussionen angeht, ein beeindruckendes Medium. Zwar finden sich auch hier Themen, die ihren kurzen Hype erleben und dann wieder in die wohlverdiente Vergessenheit geraten. Dennoch ist der lange Atem, den die FAZ immer wieder beweist, vorbildlich.

Zu diesen Diskussionen gehören die Beiträge zum Zuwanderungs- und Flüchtlingsproblem, das die politische Landschaft seit dem letzten Jahr nachhaltig verändert hat. Am 2. März 2016 antwortete in dieser Diskussion Peter Graf Kielmannsegg auf einen Beitrag des Münchener Soziologen Armin Nassehi, dem er therapeutischen Hochmut vorwarf. Indem Nassehi gefordert habe, die Ängste der Bürger ernst zu nehmen, habe er jene Kleinbürger, deren Angst nun durch die Medien getrieben werde und anscheinend auch der AfD erstaunliche Erfolge ermöglicht, der Fürsorge ausgesetzt. Das sei aber keineswegs konservativ, sondern kann, wie hinzuzufügen ist, wohl besser als paternalistisch bezeichnet werden.

Das dahingestellt schwenkt Kielmannsegg anschließend aber in ein merkwürdiges Fahrwasser. Man müsse nämlich, um der Krise Herr zu werden, „anthropologische Konstanten“ ernst nehmen. Der Mensch brauche nämich das Eigene, um existieren zu können. In einer „Welt blasser Universalismen“ sei er – und jetzt kommts – „heimatlos“. Die Universalismen müssten ins Eigene übersetzt werden. Zwar sei auch das Eigene dem stetigen Wandel ausgesetzt, aber dieser Wandel dürfe sich „nicht zu dramatisch, zu schnell, zu abrupt vollziehen“, der Mensch müsse ihm folgen könne. Er brauche ein „Grundgefühl der Sicherheit, dass ihm seine Welt nicht ganz abhanden“ komme.

Nun wird man sich angesichts der dramatischen Veränderungen, die das 20. und beginnende 21. Jahrhundert für ihre Zeitgenossen bereit gehalten haben, über eine solche Formulierung wundern. Denn schneller und drastischer als in diesen mittlerweile fast 120 Jahren hat sich zuvor keine Gesellschaft geändert. 

Angesichts dessen zu argumentieren, die Leute von heute dürften nicht zu abrupten Veränderungen ausgesetzt werden (vielleicht Moscheen? Flüchtlinge? bargeldloser Zahlungsverkehr?), ist absurd. Wenn dann müsste man eher ein Konsolidierungsargument einführen – jetzt sei es aber genug mit dem Wandel, jetzt erst mal Ruhe. 

Aber diesen Gefallen tun sich gerade diejenigen, die ihn angeblich benötigen, selber nicht.

Schneller und drastischer als die heutige ist keine Gesellschaft zuvor von ihren Zeitgenossen selbst verändert worden. Denn es sind ja gerade die Bürger als Konsumenten, die den gesellschaftlichen Wandel derart drastisch vorantreiben. Der Skandal um die Abschaffung des Bargelds? Die kleinen Leute, die angeblich derart dagegen sind, schaffen es selbst ab. Die Entvölkerung ganzer Landesteile, die Verödung von Städten und Dörfern? Der Verlust von alten Gemeinschaftsinstitutionen wie der Dorfkneipe, dem Bäcker udn Fleischer vor Ort? Geht auf die Veränderung von Lebensgewohnheiten und Praktiken der Leute selbst zurück (wenn man so unpräzise sein darf).

Und auch die angeblich so bahnbrechenden Themen der letzten Monate, wo sind sie überhaupt Teil von drastischen und abrupten Veränderungen, die über das hinausgehen, was zuvor und parallel dazu geschieht? Der Skandal um die Zuwanderung und die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen – wo hat dieser Zustrom zu Verunsicherung und Angst geführt? Anders gefragt, wo hat er Lebenswandel und Gewohnheiten geändert? Die Islamisierung des Abendlandes? Wo findet die statt? 

Die Rede von der Bewältigung von Veränderung hat mittlerweile weite Verbreitung gefunden. In der Wissenschaft nicht weniger als in der breiten Öffentlichkeit. Der Heimat-Begriff ist zum frei verfügbaren Schindluder verkommen, den jeder treibt, dem irgendwas nicht passt. Vielleicht wäre es hingegen hilfreich, wenn spätestens jetzt ein wenig Ruhe und Gelassenheit in die Sache käme, gerade in der intellektuellen Diskussion. Und wenn der Wandel einfach in Ruhe gelassen wird. Er ist eh nicht das Problem.