Radikal subjektiv

8. August 2019

In seiner jüngst erschienenen Sammlung verstreuter Essays hat Durs Grünbein auch zwei Texte zum Selbstverständnis als Lyriker veröffentlicht. Unter dem Titel „Fußnote zu mir selbst“ und „Das Punktum des Gedichts“ weicht Grünbein vom Tenor der essayistischen Bemühungen ab, der Lyrik eine spezifische gesellschaftliche Bedeutung und damit eben auch Rang zuzuweisen: Rettung der Welt, des Essentiellen, des Sprachbewusstsein oder auch des Auswendiglernens, mithin der abendländischen Kultur stehen da sonst im Angebot, was insgesamt wenig plausibel ist. Bedeutungsverlust mit Bedeutungsanspruch zu beantworten, ist vielleicht sogar eine erfolgversprechende Strategie. Man wird sehen. Aber es sollte misstrauisch machen, dass Prinzip aus der Werbung stammt, wo alles zum Ereignis und jedes KMU zum Weltmarktplayer aufgebrezelt wird. Nicht versteckte, sondern Scheinriesen allesamt, was man eben erst merkt, wenn man ihnen nahe genug kommt.

Statt externe Funktionen in Anspruch zu nehmen, mit denen Lyrik aufgewertet werden kann, geht Grünbein den umgekehrten Weg. Er fokussiert radikal auf sich selbst: „Das Gedichteschreiben ist wohl zuallererst eine Übung in radikaler Selbsterforschung“ (10), heißt es im ersten, und: „Wer Gedichte schreibt, kommt sich selbst näher und entfernt sich im selben Schwung wieder von sich“ (91), im zweiten Text. Das ist in der Tat nicht nur psychisch, sondern auch physisch gedacht, denn gerade die Erfahrung eines totalitären Regimes, das über seine Staatsbürger, gerade über ihren Körper verfügt, hat den Bezug auf das Individuum in seiner mehrfachen Ausstattung verstärkt: Wenn über den Körper verfügt wird, dann geht der Intellekt mit dem Gedicht über die „Grenzen des Körpers und der geschlossenen Gesellschaft hinaus“ (11).

Ausgangspunkt des Schreibens, in diesem Fall des lyrischen Schreibens, ist der Einzelne: „Ich mißtraue mir – das ist der Anfang.“ (96) Ein Einzelner zumal, der sich gegen die Zumutungen der Gesellschaft und des Staates wehren muss und will. Was bliebe ihm sonst? Der Untergang in diesen Zumutungen. Stattdessen also die Selbstbehauptung, die den Weg über Sprache, allerdings nur über die „gewöhnliche Sprache“ (95) und über das Schreiben nimmt.

Das verdammt den Lyriker (den Schreibenden, denn auch die Trennung von „Dichten und Denken“, was als Formen intellektuellen Arbeitens zu verstehen ist, will Grünbein aufheben) in der Gesellschaft zur Einsamkeit, zum Nonkonformen, der Dichter ist niemandem verpflichtet als sich selbst. Und damit nimmt er naheliegend ein Muster auf, das um 1900 vakant war, das den Künstler generell die Position des internen Externen zuwies. Teil der Gesellschaft zu sein, die er beobachtet, verarbeitet und die Gegenstand seiner Arbeit ist, dient nicht zuletzt dazu, ihm eine Sonderstellung zuzuweisen.

Sicher, Grünbein wendet diese Fokussierung auf den archimedischen Punkt des Lyrikers gegen die Zumutungen der Gesellschaft, die „Generalisierungen“, „den Roman der Geschichte, die immer kollektiv voranschreitet, rechthaberisch in ihrem Anspruch, den Einzelnen mit seinen Eigenheiten zu vereinnahmen“ (10). Man meint ein Echo von Brechts „Aus einem Lesebuch für Städtebewohner“ zu vernehmen.

Aber eine solche Frontstellung ist ihm (was allemal jedes Geschlecht meint) zuzubilligen ist, auch wenn „Dichtung“ tunlichst auf sakrale oder gesellschaftliche Weihen verzichten sollte. Aber das wäre zu viel verlangt. Auf einen solchen Statusverlust wird man Grünbein nicht verpflichten können. Bei aller Modernität ist er nun doch offensichtlich der Dichterschaft verfallen – aber das bleibt hier auch nachrangig.

Relevant ist hingegen, dass er in diesem Zug allen Fremdbestimmungen und zugleich -aufwertungen eine Absage erteilt. Mit der radikalen Fokussierung auf das Selbst macht Grünbein die Lyrik von allen Abhängigkeiten und Zuweisungen frei, eine „Unabhängigkeitserklärung der Poesie“ (13) nennt er das.

Den Widerspruch, der darin besteht, dass diese radikale Selberforschung eben nicht nur sprachlich erfolgt, sondern auch noch verschriftet und publiziert wird, also an eine Öffentlichkeit adressiert wird, deren Ansprüche er soeben abgewiesen hat, hebt er nicht auf. Nicht zuletzt, weil er darin die Möglichkeit sieht, das persönliche Vorgehen für andere nachprüfbar zu machen. Lyrik agiert „demonstrativ“ (13).

Damit schmuggelt er sich unter der Hand wieder ins Soziale hinein, will er sich doch von der „Umwelt, von einem großen Teil der Menschheit“ abspalten, „um ihr auf eigenen Wegen wiederzubegegnen. In der Einsamkeit wird der Bund mit den anderen täglich erneuert.“ (93)

Vieles von dem, was Grünbein in diesen beiden Texten schreibt, ist immer noch einem Dichtungsverständnis verpflichtet, das man mystisch nennen kann, etwa wenn Grünbein die „lyrische Dichtung“, wohl Vischer zitierend, als „punctuelles Zünden der Welt im Subjecte“ versteht. Aber wer wäre Grünbein, wenn er einen solchen Satz nicht faszinierend fände? Grünbein glaubt an den „Augenblick“, „da sich etwas mitteilt“ – und rückt von sich selbst dabei ab. Mag sein, dass in solchen Mustern das Gedicht nicht mehr „gemacht“ wird, sondern sich mitteilt. Aber lieber solch extremer Selbstbezug als der verschwatzte Versuch, sich neue Bedeutung zuzuschreiben.

Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate. Suhrkamp, Berlin 2019.