Alternativlose Politik?

2. August 2019

Bernhard Schlink,der nicht nur Jurist ist, sondern auch durch eine Reihe von Romanen bekannt geworden ist, hat in der FAZ vom 1.8.2019 („Der Preis der Enge. Wie der gesellschaftliche und politische Mainstream die Rechten stärkt“) die These vertreten, dass ein gesellschaftlicher und politischer Mainstream, der keine Alternativen mehr kennt oder zulassen will, zudem stark moralisch argumentiert, die politische Rechte stärkt. Die könne sich dann zurecht auf das Argument stützen, dass eine freie öffentliche Meinungsäußerung und Diskussion nicht mehr möglich sei.
Als Beispiele führt Schlink „die Abschaffung der Deutschen Mark und die Einführung des Euro, die Ost-Erweiterung der Europäischen Union, die Maßnahmen in der Euro-Krise, der Ausstieg aus der Kernenerfie und das Verhalten in der Flüchtlingskrise“ an. Alle diese Themen seien von der CDU/CSU durchgesetzt, schließlich von der SPD in Opposition und Regierung mitgetragen worden.
Nun mag das persönliche historische Gedächtnis trügen und auch der Einblick in politische Verfahren beschränkt sein, aber keines dieser Ereignisse, keine dieser Entscheidungen wurde unkritisch aufgenommen und ohne Wortmeldungen, die sich deutlich dagegen ausgesprochen haben, durchgesetzt. Ganz im Gegenteil, sie waren allesamt umstritten, der Streit dauert zum Teil mittlerweile mehr als zehn Jahren. Und hat institutionelle Konsequenzen: Immerhin geht die Gründung der AfD darauf zurück, dass die Kritik am Euro sich eine Partei suchte und sie eben gründete.
Also doch viel Streit? Alle andere wäre auch in einer politischen Landschaft wie unsriger kaum denkbar, in der jede politische Weichenstellung intensiv diskutiert wird. Dennoch werden Entscheidungen von Regierungen getroffen, ohne dass sie vorher ein Plebiszit durchgeführt wird, weil sie sie für richtig hält. Dafür muss sie sich rechtfertigen, und das Forum dafür ist die jeweils kommende Wahl.
Wie sollte das auch anders gehen? Führte man das Thema weiter, dann sind auch Entscheidungen wie der sogenannte Radikalenerlass, der Nato-Doppelbeschluss, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Wiedervereinigung, die Aufnahme der Russlanddeutschen und vieles vieles mehr alternativlos gewesen und durchgesetzt worden. Nur weiß man, dass jede dieser Entscheidungen politisch begründet wurde – und dass sich daran lange politische Diskussionen entzündeten.
Unabhängig davon gibt es für jeden diese politische Entscheidungengute Gründe, die man nicht teilen muss, aber die auch nicht als Signum der Alternativlosigkeit abstempeln sollte. Das wäre nämlich nicht angemessen.
In der genannten Reihenfolge:

Einführung des Euro als Teil der europäischen Integrationsbemühungen mit weitreichenden wirtschaftlichen und politischen Konsequenze und die Ost-Erweiterung als Versuch der Integration der Staaten des ehemaligen Ostblocks in das europäische Projekt – keins dieser beiden Projekte wurde geräuschlos umgesetzt.

Die Maßnahmen in der Euro-Krise, mit der der Zerfall dieses Integrationsprozesses verhindert werden sollten, mit hohen Kosten, aber eben auch mit einem zumindst nachvollziehbaren Ziel.

Der Ausstieg aus der Kernenergie war die Reaktion auf einen GAU in einem KKW, eben kurz nachdem die Reaktorlaufzeiten in der Bundesrepublik neu vereinbart worden waren. Fukushima mag den Blick auf die Risiken der Kernenergie auch in CDU/CSU geschärft haben und es ist erstaunlich, dass beide Parteien einen kurz zuvor durchgesetzten Deal mit der Kernindustrie zu suspendieren bereit waren – aber ohne Diskussionen ist auch das nicht umgesetzt worden.

Das Verhalten in der Flüchtlingskrise: Es ist auffallend, dass sämtliche Zuwanderungsdiskussionen, die seit den 1990er Jahren geführt wurden (Boot ist voll etc.) völlig ausgeblendet werden. Die Situation im Herbst 2015 war tatsächlich krisenhaft und hat schnelles Regierungshandeln erfordert. Ob die Entscheidungen, die seinerzeit getroffen wurden, richtig oder falsch waren, dazu kann man unterschiedlicher Ansicht sein, sie wurden jedoch zu keinem Zeitpunkt unkritisch aufgenommen und lediglich hingenommen. Sie waren auch nicht alternativlos, die Regierung hat nur gehandelt, wie sie es für richtig hielt.
Schlinks These ist also an entscheidender Stelle nicht plausibel, sondern richtet die Wahrnehmung auf politisches Handeln spezifisch zu. Das gilt auch für einen angeblichen Mainstream, der moralisch argumentiert und nichts neben sich zulassen soll. Zwar ist es unübersehbar, dass politisch Positionen vertreten werden, in denen ein spezifische Handeln gefordert wird, was weit in den Alltagsbereich hineinreicht, aber diese Positionen müssten mehrheitsfähig werden, um sich durchsetzen zu können. Dass sie öffentlich vertreten werden, ist kaum zu kritisieren. Dass es in der öffentlichen Diskussion dazu Meinungsbilder gibt, ebensowenig.
Wie steht es aber um die Frage, ob man sich heute in der Öffentlichkeit nicht mehr frei äußeren dürfe?
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Äußerungen in der Öffentlichkeit immer sehr viel genauer wahrgenommen und bewertet wurden als im privaten Raum. Niemand hat je in der Öffentlichkeit sagen können, was er wollte. Gesellschaften haben das immer sanktioniert – hier geht es jedoch um angebliche Wahrheiten, die man nicht sagen darf. Und das ist schließlich etws anderes, wird doch unterstellt, dass die freie Meinungsbildung und -äußerung unterdrückt werden.
Hinzu kommt, dass eigentlich das Gegenteil korrekt ist: Mit den neuen Medien werfen Äußerungen andere Wellen, werden breiter wahrgenommen und stärker verbreitet. Neben den alten sind es diese neue Medien, die hier als Multiplikatoren funktionieren. Sie geben auch die Plattformen für Äußerungen ab, die deutlich weniger von Verhaltensnormen, Tabus oder tabuisierten Haltungen resp. Meinungen bestimmt sind als dies bei alten Medien der Fall war. Man möge sich doch nur die zahlreichen Merkel-Beschimpfungen im Netz u Gemüte führen und dann noch behaupten, dass sich hier irgendjemand in seiner Meinungsäußerung unterdrückt zeigt.
Das heißt, auf der einen Seite bekommen mehr Leute mit, wenn jemand Dummheiten macht und sagt, auf der anderen Seite schreiben Leute deutlich weniger gehemmt, was sie denken, ins Netz.
Wie aber steht es mit dem verengten Mainstream, den Schlink attestiert. Stimmt es, dass die Parteien keine „Ränder“ mehr haben, an denen abweichende Meinungen integriert werden? Das kann man angesichts der Diskussionen in der Union zur Flüchtlingskrise (man erinnere sich an die diversen Dispute zwischen Merkel und Seehofer) kaum sagen. Allerdings scheinen sich alle Parteien von einer Sicht auf die Gesellschaft weitgehend gelöst zu haben, in der eine einzige Ethnie (die es so ja auch nie gegeben hat) dominant wäre. Sie sind pluraler geworden und damit auch liberaler. Das mag der Grund dafür sein, dass es wenig Gemeinsames mit der politischen Repräsentantin der neuen Rechten gibt, aber der Dissens ist weniger von den etablierten Parteien oder Repräsentanten des Mainstreams geschaffen worden, als von der AfD und anderen Gruppen, die sich von einem Mainstream, der sich gängele und verdränge etc. abgegrenzt haben. Ähnliches ist zu dem Klischee zu sagen, dass große Teile der Bevölkerung nicht gehört würden und repräsentiert seien. Das lässt sich für eine Gesellschaft, die im Vergleich zu älteren Etappen der Nachkriegsjahrzehnte deutlich offener, legitimierter und transparenter ist, nicht wirklich behaupten.
Mit anderen Worten, Schlink plappert an politischer Rhetorik nach, was von Rechts derzeit in den Mainstream schwappt, mit dem vornehmen Ziel, solchen Positionen die Grundlage zu entziehen. Dabei macht er schlichtweg den Hauptakteur zum Opfer, resp. er akzeptiert die Inszenierung der AfD und anderer und wendet sie gegen eine Gesellschaft, die sich wenigstens als halbwegs liberal und offen positioniert hat. Das wirkt ein bisschen intellektuell paralisiert, ist nicht nachvollziehbar, als Basis eines politischen Agenda auch nicht tauglich.