Neue Knappheit

21. Juli 2013

Ich erinnere mich daran, dass vor Jahren mein Doktorvater vor einem seiner Kollegen klagte, dass man auf zwanzig Seiten wohl kaum einen Gedanken angemessen entwickeln könne. Das ist lange her und war in Essen, und dennoch hat er in dieser Hinsicht bis heute recht. Ein Gedanke muss entwickelt werden und dazu braucht es Platz. Freilich, die Literaturwissenschaft ist über diese Erkenntnis ebenso hinweggegangen wie über die diversen erkenntnisleitenden Paradigmen der vergangenen Jahrzehnte – teilweise zu ihren Gunsten, teilweise zu ihrem Nachteil. 

Statt also des entwickelten Gedankens finden sich heute bevorzugt knappe Skizzen und vor allem vollgestopfte Anmerkungsteile. Der Literaturwissenschaftler und die Literaturwissenschaftlerin von heute – wenn ich das extrapolieren darf – wagen es anscheinend kaum noch, eine Bemerkung zu machen, ohne sogleich nachzuweisen, woher sie sie denn nun wieder haben oder haben könnten. Und er resp. sie spricht kein Thema an, ohne zugleich eine Liste der einschlägigen Titel mitzuliefern, die sich in den vergangenen Jahren zu diesem Thema ausgelassen haben. 

Nun gab es das auch schon früher. In Hans Peter Duerrs Klassiker Traumzeit (1978) war der Textanteil der Fußnoten umfassender als der Haupttext (161 zu 184 Druckseiten, Schriftgröße und Vorlauf einmal ignoriert). Aber was in diesen Fußnoten los war, sucht bis heute seinesgleichen. Hier fanden sich die Diskussionen wieder, die im Hauptteil keinen Platz fanden, hier wurden Abzweigungen gelegt und Überlegungen gewagt, die es auch noch wert gewesen waren, niedergeschrieben zu werden. Das waren merkwürdige Zeiten, diese siebziger Jahre.

Nun aber heutzutage nicht minder merkwürdig: Denn wer sich in den Fußnoten möglichst breit zu machen versteht, muss sich im Haupttext dann auf knappen Raum beschränken. Zehn Seiten in einem Sammelband sind teuer, wenn der Druckkostenzuschuss sich nach Bögen bemisst. Also muss jeder Gedanke – wie groß er auch sein mag – auf zehn Seiten abzüglich Apparat entwickelt sein.