Moralmoderne?

10. Juli 2011

In der FAZ von Dienstag, 10. Mai 2011, berichtete Julia Voss über eine Ausstellung der Kunsthalle Karlsruhe, in der sie eine fragwürdige, weil moralisch untolerierbare Moderne gehuldigt sah. Stein des Anstoßes: Gemälde von Erich Heckel, Otto Müller und Ernst Ludwig Kirchner, auf denen nackte halbwüchsige Mädchen zu sehen sind.  Das Argument steht im ersten Satz: „Würden Sie den Malern dieser Bilder ihre elfjährige Tochter zu einem Badeausflug anvertrauen?“ Wenn nein, dann gehörten diese Maler auch nicht als Protagonisten der Moderne gefeiert.
Belegt wird das Argument mit dem Verweis auf ein halbwüchsiges Modell vieler Maler der Dresdner Brücke-Vereinigung mit dem Namen Fränzi, die zur „Lolita einer Männer-Boheme“ gezwungen worden sei. Was geschehe, wenn man die Lebenswelt der Modernen ausblende, zeige ihre Geschichte: Man wird annehmen, dass damit das ganze Programm zwischen Missbrauch und Selbstherrlichkeit gemeint ist, zu denen auch die Protagonisten der Moderne fähig waren. 
Allerdings ist Voss‘ Argument fatal, denn auch wenn die Kunst der Moderne und gerade der Avantgarde die Durchdringung von Leben und Kunst propagierte, ist der Status dieser Kunst als Exempel von Moderne nicht von der moralisch einwandfreien Lebensführung abhängig. Wer dies versucht, betreibt die Moralisierung der Kunst, was sich möglicherweise als Rest der alten Gleichung erklären lässt, dass die gute Kunst die moderne Kunst ist und die moderne Kunst politisch, moralisch und ethisch vorrangig. 
Eine Kunstgeschichte muss es mit anderen Worten aushalten, dass ihre Exempel nicht moralisch einwandfrei gehandelt haben.
Das wiederum bedeutet nicht, dass es sich nicht lohnte, die lebensweltlichen Bedingungen für die Moderne anzuschaun, gerade weil es darum geht zuerfahren, wie die Moderne entstanden ist. Allerdings nicht mit dem Auftrag, dabei kräftig auszusieben.