Leitkultur? Gemeinsame Kultur?

20. November 2016

Das Thema Leitkultur, also eine Kultur, die für die Bundesrepublik prägend und hinreichend verbindlich ist, wird ja bereits eine Weile durchs politische Dorf getrieben. Vor mehr als einem Jahr hat die FAZ dazu einen Text des Berliner Historikers Baberowski publiziert, in dem unter anderem von Überlieferungsgemeinschaft geschrieben wurde (der aber per se niemand angehört, siehe Note vom 30. September 2016: Einwanderung in der aufgeklärten Gesellschaft). Jens Jessen hat in einem Essay in der ZEIT vom 22. September 2016 mit Bezug auf das Parteiprogramm der AfD die Sprengkraft beschrieben, die einer Forderung nach einer verbindlichen Leitkultur innewohnt. 

In der zitierten Passage des Parteiprogramms werde die Ideologie des Multikulturalismus verworfen, stattdessen eine verbindliche Leitkultur eingefordert, die „deutsche kulturelle Identität“ müsse von Staat und Zivilgesellschaft „selbstbewusst verteidigt“ werden. Das kann man sich ganz lustig vorstellen, aber damit ist es nicht getan, auch wenn sogar ein sehr selbstbewusster Staat wie der des Deutschen Reiches zwischen 1933 und 1945 an der Anforderung gescheitert ist, „die deutsche kulturelle Identität selbstbewusst zu verteidigen“. Irgendwie schafft es dieses blöde Multikulti immer wieder, sich in den Ritzen der Leitkultur einzunisten und – bei entsprechenden Temperaturen- das Ganze auch noch aufzusprengen. 

Jessen weist zurecht darauf hin, dass es so etwas wie eine kulurelle Identität nicht gibt. Sie ist bestenfalls als abstraktes Konstrukt denkbar und in jedem Fall das Produkt eines jahrzehnte- und jahrhundertelangen Integrationsprozesses von allen möglichen externen Einflüssen und Zuwanderungen und internen Ausdifferenzierungsprozessen. Da ist einem mit dem Habermasschen Modell des Verfassungspatriotismus besser gedient. 

Die Auseinandersetzung mit der Leitkultur wird also in großem Maße darum gehen, die Zumutungen einer verordneten kulturellen Identität abzuweisen. Statt dessen gilt es ein kulturelles Modell zu verteidigen, in dem jeder nach seiner Facon glücklich werden kann, solange er nicht andere Zumutungen unterwirft, die nicht zulässig sind. Etwa die einer kulturellen Identität, die nicht geteilt wird.