18. März 2019
„Geh aber nun und grüße / die schöne Garonne — “
Die Verfechter der gesellschaftlichen Bedeutung von Lyrik scheinen nur noch den Untergang zu moderieren. Die Basis ist die schwindende Rezeption von Lyrik, die etwa in einem Beitrag von Matthias Fechner in der FAZ vom 28. Januar 2019 mit dem Verfall von Allgemeinbildung oder einem schwachen Zustand von Kultur und Bildung kurzgeschlossen wird. Es lohnt sich dafür die Einleitung seines Beitrags („Demenz des kollektiven Gedächtnisses“) anzuschauen, in dem er die Ursache für die nachlassende Bedeutung der Lyrik (hier wieder gern „Dichtung“ genannt) in der mangelnden Vermittlung in der Schule verortet, an jenen „Einrichtungen“ also, so das Zitat, „an denen alle jungen Menschen irgendwann einmal einen inspirierenden Umgang mit Dichtung erlebt haben sollten“ (arme Schule).
„Die geistige Begegnung“ – welche auch sonst? – „mit der Dichtung“ – es folgt eine Aufzählung diverses kanonisierter Texte von Hölderlin bis Bachmann – „vermag immer noch biographische Weichen zu stellen“ (???). Die Richtung, in die diese Weichen gestellt werden, wird sogleich auch näher bestimmt: Es sind „sprachliche Hochkultur“, „sprachliches Qualitätsbewusstsein“, „Gefühl der Zusammengehörigkeit“, was als Leistungen der „Dichtung“ summiert wird, in der Fortsetzung: Vermittlung „menschlicher (welche sonst?) Gefühle“, selbstverständlich „mit wenigen Worten“, „Empathie“, „Verstehen“, „Verstanden werden“, die „Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzudenken“, die Aufforderung, „eigene Gedanken und Gefühle jenseits der Alltäglichkeit zu artikulieren“. schließlich sei „Dichtung“ das „Ausdrucksmedium, in welchem existentielle Fragen von Leid, Tod, Liebe oder spiritueller Erfarung am unmittelbarstn verarbeitet werden“.
Was solche Aufgaben und Leistungen angeht, sieht Fechner sogar die „kleinsten Dorfschulen“ in „China“ noch in der Vorhand, würden dort doch „im gemeinsamen Lernen, Rezitieren und späteren Erinnern“ Erfolge wie Zusammengehörigkeitsgefühl und Qualitätsbewusstsein erreicht. Und naheliegend fehlt nicht der Verweis aufs obligatorische Auswendiglernen – damit habens die falschen Lyrikfreunde.
Davon einmal abgesehen, dass chinesische Dorfschulen keine angemessene Referenz darstellen – oder wollte Fechner die chinesische Gesellschaft als Vorbild für europäische darstellen? (ich seh uns schon alle im Kreis zusammenhocken und Gedichte erinnern, um ähnöich erfolgreich zu werden wie China) -, davon einmal abgesehen, dass die von Fechner angeführten existenziellen Fragen ein wenig an spätpubertäre Orientierungsbedürfnisse erinnern (ja, das ist polemisch, aber irgendwie retten sich solche abgedroschenen Floskeln, die nicht anderes sind als eine intellektuelle Bankrotterklärung, über die Jahrzehnte, und das darf man auch einem Matthias Fechner nicht durchgehen lassen), abgesehen davon, dass ein Teil der Aufgaben und Leistungen der „Dichtung“ (wenn auch weniger hochtrabend) der Job jeder Kommunikation sind, sind Fechner zwei Zitate aus Gottfried Benns Vortrag „Probleme der Lyrik“ aus dem Jahr 1951 entgegenzuhalten: „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.“ Und: „Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.“ Daran kann man sich einigermaßen halten, und ansonsten die Aufgaben der Lyrik (oder auch allgemeiner der „Dichtung“) weniger allumfassend, weniger weltuntergangsgetrieben vorstellen.
Es ist bezeichnend, dass die Essayistik zur Lyrik sich von mal zu mal schwerer tut, die Bedeutung von Lyrik zu definieren und sich ins Grundsätzliche verirrt. Hinzu kommt, dass – wenig verdeckt – ein anachronistisches Konzept von Literatur propagiert wird, in dem einerseits die Stiftung von Gemeinschaft, andererseits die Sicherung des sprachlichen Niveaus und damit von Kultur als Kernaufgaben dieser spezifischen Textform beschworen werden. Das deutet darauf hin, dass den offenen Gesellschaften fehlende Gemeinschaft und deren sprachliche Verfahren fehlendes Niveau unterstellt werden. Das kultur-konservative Motiv dahinter ist offensichtlich. Zugleich – und dies soll an dieser Stelle gesagt sein – dieser Ansatz verfehlt die Texte von Hölderlin bis Bachmann, auf die sich Fechner beruft, egal ob sie selbst wiederum einer verlorenen Zeit nachtrauern oder sich in den Verhältnissen nicht wiederfinden.