Der schwarze Tristan

Skizze zu Klabund „Der Neger“ (1920)

24. November 2022

Auf der ersten Ebene ist der Text – ein spätexpressionistisches Langgedicht, 1920 in Dresden erschienen – konventionell angelegt: Der mit ursprünglicher Wildheit identifizierte schwarze Sklave des Normannenfürsten Roger beansprucht die Tochter des Herrn für sich, nimmt sie aufgrund seiner überlegenen Potenz, die mit göttlichen Attributen ausgestattet wird (vice versa: der Gott mit dem riesigen Phallus), tötet seinen weißen Nebenbuhler und tötet schließlich auch die begehrte Frau. Dahinter kann stehen die Kritik an der Tödlichkeit männlichen Begehrens oder auch, und ggf potenzierend, das Phantasma vom wilden, erotisch aufgeladenen schwarzen Mann, der die weiße Kultur in den Untergrund stößt, in dem er die weißen Frauen begehrt, beschläft und tötet.

Ein zweiter Blick geht aber weiter:

In dem wird erkennbar, dass die Folie des Textes die mittelalterliche Tristan-Epik ist, mithin ein Konzept, in dem der handlungsmächtige Beauftragte des Königs (hier Tristan) statt des Repräsentanten der Macht (des Königs Marke) die Gattin des Königs mit Recht (weil er ist, der handelt) beansprucht. Dahinter steht das Konzept der Unmittelbarkeit des Handelns, das dem der mittelbaren komplexer Gesellschaftsstrukturen, in denen Handlungsmacht und Repräsentation auseinanderfallen, als überlegen gegenübergestellt wird.

Die frühe Kritik an komplexen Gesellschaften, die sich in der Tristan-Epik des frühen 13. Jh. zeigt, erhält im frühen 20. Jh. neue Aktualität, also in einer Gesellschaft, in der Institutionen und nicht Menschen Macht ausüben, Macht nicht notwendig der hat, der handelt. Moderne Gesellschaften potenzieren das Problem, das in der Tristan-Epik angerissen wird, und sie potenzieren auch die Attraktivität des unmittelbaren Handelns. Das wird erkennbar in der Ablehnung etwa der „Quasselbude“ Parlament und verantwortungslosen, handlungsunwilligen Politikers einerseits und der Attraktivität der Tatmenschen, die etwa der Faschismus zu nutzen wusste, andererseits. Die Tat wird mithin dem Gespräch, dem Diskurs, dem Ausgleich etc. übergeordnet, die Unmittelbarkeit des Handelns erhält in komplexen Gesellschaften einen hohen Reiz.

Die Ausstattung mit dem Herrn Roger und dem namenlosen „Neger“ potenziert das Ganze nun noch. Dabei referiert der Name Roger auf den Normannenfürsten Roger II (1095-1154) von Sizilien, der zu seiner Zeit anscheinend als mächtigster und reichster Fürst Europas gegolten hat und der Großvater Kaiser Friedrichs II von Staufen war – womit er in die deutsche Geschichte hineinwirkt. Die Referenz ist dabei nicht eindeutig und ggf. noch zu klären. Mindestens die zeitliche Einordnung, die Anbindung an die deutsche Geschichte und die Lokalisierung (Sizilien) sind darüber möglich.

Der „Neger“ nun potenziert das Gefälle zwischen dem Namentragenden Herrn und dem unterworfenen Akteur, der aber eigentlich derjenige ist, der handlungsmächtig ist. Damit wird also eine Position, die extrem abgewertet ist, mit einem Mal radikal umgewertet, weil sie handeln kann. Der „Neger“ ist derjenige, der bei der Kriegsfahrt die unterworfenen Feinde erschlägt und der die jüdischen Händler henkt, die den Fürsten betrogen haben. Er steht an der Position, die die Repräsentanten der Macht benötigen, um handeln zu können. Und auch er erhebt Anspruch auf den Lohn für seine Handlungsfähigkeit – und auch hier ist es die Frau, in diesem Fall die Tochter des Fürsten.

Das fatale Ende, in dem der Schwarze die weißen Frauen mit seinem als göttlich apostrophierten Phallus penetriert, um sie anschließend zu töten, verweist aber entweder auf eine radikale Kritik des Tat-Mythos des frühen 20. Jahrhunderts oder auf eine fatale Haltung zu diesem Konzept. Es wird unser aller Ende sein, aber was solls.

Dass der Text mit einer rassischen Auszeichnung des Schwarzen agiert und seine diskreditierende Bedeutung nutzt, ist im Konzept zwingend aufgehoben. Daraus lässt sich eine Haltung Klabunds, dessen Faszination vom Exotischen bekannt genug ist, nicht ableiten, es sei denn zum Thema unmittelbares Handeln und seiner Effekte. Der „Neger“ ist eine Extrembesetzung, er treibt die Grundkonzeption bis zur Erkennbarkeit voran, aber Plot und Ausstattung suspendieren die Kritik vielleicht schon wieder, weil sie mit der Extremausstattung eben auch ein ubiquitäres Abwertungspotenzial von Schwarzen verwendet. Aber aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg.

Klabund: Der Neger. Dresden: Rudolf Kämmerer Verlag 1920