Demografischer Zynismus

16. März 2010

In der FAZ von Montag, dem 15. März 2010 publizierte der Soziologe Gunnar Heinsohn einen Essay, in dem er einen radikalen Wandel in der Sozialpolitik anmahnte. Die Alimentierung der sozialen Unterschichten und insbesondere von Nachwuchs führe nur dazu, dass sich Armut reproduziere, aus dem einfachen Grund, dass Kinder für Arme Kapital seien. Kinder von Armen, deren Bildungsgrad zudem gering sei, würden jedoch in einen Reproduktionszyklus eingespeist, der wiederum Armut, geringen Bildungsgrad und Nachwuchs, zudem auch noch Kriminalität etc. fördere. Die Sozialpolitik führe auch dazu, dass nicht gebildete und leistungsstarke Einwanderer nach Deutschland kämen, sondern wiederum nur bildungsferne, arme und leistungsschwache Gruppen.
Die Alternative: Zeitliche Begrenzung der Alimentierung auf 5 Jahre wie in den USA, was dazu führe, dass die ärmeren Schichten Kinder nicht mehr als Kapital ansähen, da sie nach 5 Jahren zum Überlebensrisiko würden. In den USA sei das erfolgreich praktiziert worden – ein System, das im Übrigen der Linksliberale Bill Clinton eingeführt habe.
Freilich, so einfach radikal wird das Ganze nicht funktionieren, zumal Heinsohn seinen Essay perspektivisch stark zurichtet.
So betont er, dass gebildete und wohlhabende Schichten sich heutzutage auf ihr persönliches Fortkommen konzentrierten und die Reproduktion deshalb nachrangig werde. Das gelte für Männer wie Frauen.
Das ist soweit korrekt, allerdings koppelt er das von den Ursachen weitgehend ab, denn für die Fokussierung auf das eigene Leben ist nicht Wohlstand an sich verantwortlich, sondern die ungesicherten individuellen Perspektiven in der Wohlstandsgesellschaft. Das verschiebt die Realisierung von Kinderwünschen und anderes auf einen Zeit nach der Konsolidierung der Lebensperspektiven, die aber allzu oft nicht realisierbar ist. Prekarität der Lebensperspektiven ist freilich eine Konsequenz der Verflüchtigung aller gesellschaftlichen Institutionen und der Individualisierung von Lebensplanung. Vor- und Nachteil eben der individuellen Freiheit.
Das scheint Heinsohn akzeptieren zu wollen, denn als Ausweg sieht er nur die Zuwanderung von gebildeten etc. Allochthonen  bei Beschränkung der Reproduktion der ärmeren Sozialschichten. 
Ist allein das schon von einer erstaunlichen zynischen Offenheit, vermeidet Heinsohn den Blick auf die Teile der sozialen Unterprivilegierten, die nicht auf die geänderte Alimentierung reagieren oder reagieren können und nach 5 Jahren aus dem Sozialraster fallen. Mit anderen Worte, er liefert diese Gruppen ihrem Schicksal aus, Sozialmüll, der sehen muss, wie er durchkommt?
Dass er nebenbei das Motiv gesellschaftlicher Verantwortung für Kriminalität als einen der Gründe nennt, die die Armutsreproduktion weiter anheize, stützt die merkwürdige Schlagseite seiner These und den radikalen Individualisierungeffekt, den sein Vorschlag nach sich ziehen würde. 
Eine reine Alimentierung hat dabei möglicherweise die Konsequenzen, die Heinsohn vermerkt. Sie ist demnach auch keine realistische Alternative (was die Diskussion um garantierte Grundeinkommen die Basis entzieht). Außerdem degradiert die Alimentierung ihre Empfänger, sie macht eben auch würdelos. 
Das Grundprinzip der rot-grünen und später der schwarz-roten Regierung, zu fördern und zu fordern scheint hingegen ein Ausweg aus dem Dilemma zu sein, das Heinsohn skizziert. Sie ist jedenfalls weder so zynisch, wie sein Vorschlag, noch so ignorant wie die Diskussion um den Hartz IV-Missbrauch.
Hinzu kommt, dass eine Gesellschaft, die in ihrem Grundverständnis Kinder zum Risiko macht und Eltern in der Versorgung von Kindern (Kindertagesstätten, Kindergärten etc.) und in ihrer Lebens- und Karriereplanung mehr oder weniger allein lässt, sich nicht wundern darf, dass Kinder eben ausbleiben. Kinder wie Menschen generell nicht zum Risiko, sondern zur Selbstveständlichkeit zu machen, bleibt hingegen eine Anforderung sozialer Verantwortung. Ein offener Posten.