Doppelte Agenda beim Ehegattensplitting?

11. Juni 2021

Die FAZ hat Nicola Fuchs-Schündeln und Michèle Tertilt, Ökonominnen der Universitäten Mannheim und Frankfurt/Main, am  Montag, den 7. Juni 2021, eine Seite eingeräumt, um für die Umstellung von Ehegattensplitting auf Einzelversteuerung zu argumentieren. Da es beim Geld immer ums Geld geht, bieten sie auch Zahlen, also in etwa so:

Wenn die Ehefrau eines Mannes, der ein Jahreseinkommen von 50 TEuro verdient (gemeint ist das zu versteuernde Einkommen, nicht das Bruttogehalt), überlegt arbeiten zu gehen und zwar für ein Jahreseinkommen (auch hier nicht das Bruttojahresgehalt) von 20 TEuro, dann bleiben der Frau von diesen 20 TEuro etwa 14 TEuro, sagen Nicola Fuchs-Schündeln und Michèle Tertilt. Würde sie individuell, also nur für sich versteuert, blieben ihr 18 TEuro. Die Frau hätte also in der Einzelversteuerung 4 TEuro mehr zur Verfügung. Wenn das Referat falsch sein sollte, geht das zu Lasten des Verfassers.

Das Ergebnis ist also, so schnell wie möglich in die Einzelversteuerung. Und die Frage ist: Weshalb gibt es das Ehegattensplitting dann überhaupt? Um Paare in konventionelle Verhältnisse zu zwingen? Mann geht arbeiten, Frau betreut Kinder? Aber rechnen können beide nicht? Das klingt erstmal merkwürdig. Aber das kann man ja kontrollieren.

Prüft man diese Zahlen nach, dann kommt man auf folgende Ergebnisse, die im wesentlichen das Rechenexempel der beiden Autorinnen bestätigen – mit einer folgenschweren Ausnahme, bei der nicht zu erkennen ist, ob dabei ein Rechenfehler oder eine verborgene Agenda die Ursache ist.  Und auch hier ist (erneut) zu berücksichtigen, dass hier nicht Lohnsteuer, sondern Einkommenssteuer berechnet wird, also das, was am Jahresende bei der Steuerklärung des Paares berücksichtigt wird.

Betrachten wir die Einzelveranlagung, also jeder Steuerpflichtige wird getrennt besteuert:

  • Die Steuerlast für denjenigen, der 50 TEuro zu versteuerndes Jahreseinkommen hat, liegt nach der sogenannten Grundtabelle für 2021 bei knapp 12 TEuro, bei dem, der nur 20 TEuro versteuern muss, sind das knapp 2,27 TEuro, insgesamt 14,2 TEuro. Bleiben also von den 70 TEuro ca. 55,8 TEuro (von denen noch andere Lasten abgehen wie Sozialabgaben, aber die ignorieren wir vorerst).
  • Die Steuerlast eines gemeinsam veranlagten Paars mit einem gemeinsamen Einkommen von 70 TEuro liegt nach der Splittingtabelle, mit der die gemeinsame Veranlagung abgebildet wird, bei rund 13,3 TEuro, bleiben also knapp 56,7 TEuro.
  • Den gemeinsam veranlagten Eheleuten stehen nach dieser Berechnung ca. 1 TEuro mehr zur Verfügung, als wenn sie getrennt veranlagt würden. Das ist nicht die Welt, aber haben ist besser als nicht haben.
  • An der Beschreibung der beiden FAZ-Autorinnen stimmt also, dass das Zusatzeinkommen von 20 TEuro bei der gemeinsamen Veranlagung fast so hoch besteuert (mit 6.068 Euro) wird wie das Einkommen von 50 TEuro: Darauf werden nämlich 7.252 Euro fällig. Das ist hässlich, aber eben ein Effekt des deutschen Steuersystem, das höhere Einkommen quotal höher besteuert. Ob jemand das für gerecht oder ungerecht hält, kommt auf den Standpunkt. Für die höhere Besteuerung sprechen nicht zuletzt soziale Argumente, nach denen jenen, die leistungsfähiger sind, höhere Lasten abverlangt werden können. Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von ca. 100 TEuro addiertes Einkommen ist übrigens der Vorteil des Ehegattensplittings aufgebraucht. Ab da stehen sich gemeinsam und getrennt Veranlagte gleich. Auch da irren sich die beiden FAZ-Autorinnen, der Vorteil des Splittings ist irgendwann mal aufgebraucht. Das liegt daran, dass die gemeinsam genutzten Freibeträge irgendwann dann doch mal genutzt sind.
  • Zumindest die Aussage, die Frau hätte bei einer Einzelversteuerung auf ihr Einkommen mit nur ca. 2 TEuro Steuer ca. 4 TEuro mehr zur Verfügung ist irreführend. Das stimmt nämlich nur dann, wenn die höhere Versteuerung des Mannes bei der Einzelveranlagung aus dem Blick gerät; die steigt nämlich in diesem Fall auf knapp 12 TEuro.

Das Ergebnis spricht also für die wirtschaftlichen Vorteile der gemeinsam Veranlagung. Das sollten auch beiden Ökonominnen wissen (was zu unterstellen ist), aber sie lassen es nicht in ihre Darstellung einfließen. Nur im Nachgang wird erkennbar, dass sie um die Schräglage ihrer Argumentation wissen: Immerhin erwähnen sie, dass die Aufgabe des Ehegattensplitting den Steuerbehörden pro Jahr 26 Milliarden Euro einbringen würde, was wohl auch daran hängt, dass dann die wirtschaftlichen Vorteile des Ehegattensplittings aufgegeben würden. Auch die Mehrbelastungen für viele Ehepaare bei einer Aufgabe der gemeinsamen Veranlagung, die die beiden Autorinnen später erwähnen, erklären sich aus ihrem kleinen Exempel nicht. Das lässt vermuten, dass das Ehegattensplitting nur der Hebel ist, mit dem andere Ziele erreicht werden sollen: zum Beispiel mehr Frauen in die Arbeit zu bringen, das Stundenkontingent zu erhöhen, die Selbständigkeit und damit Verfügungsgewalt über Ressourcen zu verbessern, die Karrieren von Frauen zu fördern.

Dem steht aber weniger das Ehegattensplitting im Weg, sondern behindert wird das durch die hohen Kosten der Arbeit, egal wie mans dreht oder wendet: Denn nicht einmal das Einkommen nach Steuern steht der Familie, dem Paar oder den Einzelnen vollständig zur Verfügung, es gehen noch Sozialabgaben, also Krankenkasse, die ja erst für die beruflich Tätige anfällt, Arbeitslosengeld und Rentenbeiträge ab; grob gerechnet bleiben also von 1.000 Euro Einkommen am Ende nur 550 bis 600 Euro, Tendenz mit dem Einkommen steigend.

Dass vom Zusatzgehalt des/der geringer Verdienenden viel Geld in die Steuer und die Sozialabgaben fließt, ist also ein Problem, das in jedem Fall auftaucht, sobald es einen Zusatzverdienst geben soll.

Mit einer Ausnahme: Der Minijob, bei dem bis zu 450 Euro / Monat, mithin 5,4 TEuro / Jahr ohne Sozialabgaben und Steuern dazuverdient werden können. Mit ihm werden, und das sehen wohl auch Fuchs-Schündeln und Tertlit so, zu versteuernde Einkommen bis gut 10 TEuro brutto / Jahr kannibalisiert (etwas mehr, wenn vom Bruttolohn die Rede ist). Kommen Mehraufwendungen hinzu, weil für die Erwerbstätigkeit des/der geringer Verdienenden z.B. Kinder in eine bezahlte Betreuung müssen, hohe Fahrtkosten anfallen etc., dann schmälerte das den Vorteil weiter und steigert den Grenzwert, ab der sich Mehrarbeit lohnt, schnell um einige tausend Euro. Die geringfügige Beschäftigung bekommen Eltern oder Alleinerziehende normalerweise in den Kitazeiten oder anders kostenneutral geregelt. Aber das (vorerst) nur nebenbei und auch nur frech behauptet. Mit anderen Worten, Zusatzeinkommen sind – außer wenn sie klein sind und als Minijob machbar sind – immer aufwendig und sind mit Kosten verbunden.

Die Diskussion um das Ehegattensplitting im Vergleich zur Einzelversteuerung verdeckt aber das anscheinend eigentliche Ziel der Diskussion, die wirtschaftliche Selbständigkeit von Frauen und in diesem Zug die Erhöhung der Arbeitszeiten. Gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt und auf den Karriereschienen ist nichts zu sagen, aber der Weg, der hier eingeschlagen wird, ist bedenklich und macht misstrauisch: Er geht über die Erhöhung des Drucks zum Zusatzeinkommen. Indem die wirtschaftlichen Vorteile des Ehegattensplittings einem konservativen Geschlechterkonzept zugewiesen werden (was eben so nicht stimmt, weil es ja Zweiteinkommen vergleichsweise attraktiv macht), wird es delegitimiert. Um die Kosten seiner Abschaffung zu kompensieren, müssten Frauen insbesondere ihre Arbeitszeiten erhöhen, fielen die Minijobs weg, die Fuchs-Schündeln und Tertlit ausdrücklich noch in den Blick nehmen, sogar drastisch.

Die höhere wirtschaftliche Selbständigkeit von geringer Verdienenden, was je meist Frauen sind, wäre ein hohes Gut, aber die Kosten, die damit verbunden sind, sind bislang nicht einmal ansatzweise betrachtet, und eben auch nicht die Maßnahmen, die helfen könnten, die Erwerbsarbeit attraktiver und leichter zu machen. Neben den Belastungen des Arbeitslebens sind insbesondere dann, wenn Kinder mit ins Spiel kommen – ehelich oder nicht – die Rahmenbedingungen grundsätzlich anders zu gestalten, etwa durch kostenlose und umfangreiche Kinderbetreuungsangebote, durch Fort- und Weiterbildungsangebote, die auch bei unterbrochenen Arbeitsbiografien effektive Unterstützung leisten wüwrden, auch Elternzeitangebote, kombiniert mit einem umfangreiche Kündigungsschutz für Arbeitnehmer. Auch eine massive Änderung von Haltungen in den Betrieben und im Umfeld sind notwendig – die Berichte aus Firmen, in denen Schwangerschaft, Elternzeit und anderes mehr massiv attackiert werden, sind erschreckend. Solche Haltungen und solche Misstände müssten vorrangig angegangen werden, wenn es eine politisch nachhaltige und wirtschaftlich für Paare wie für die Einzelnen vertretbare Entwicklung geben soll.

Ein letztes noch zum Werteargument, das auch Nicola Fuchs-Schündeln und Michèle Tertilt vortragen, die Förderung traditionelle Paarkonzepte durch das Ehegattensplitting: Dass vom Ehegattensplitting insbesondere Familien mit einem traditionellen Rollenmodell profitieren, ist vor allem deshalb nicht plausibel, weil in einem solchen Modell die Frauen nicht arbeiten, sondern sich um Kinder und Haushalt kümmern. Es sei denn, die Verfasserinnen meinen mit „traditionell“ etwas anderes. Aber selbst dann stehen sich die Leute besser mit als ohne das Ehegattensplitting, zumindest bei Einkommen im mittleren Bereich.

Anders hingegen wenn der Blick auf die Problematik geändert wird: Grundsätzlich liegt das Problem in allen Erwerbsstrukturen vor allem bei der Verfügungsgewalt über die Einkommen. Liegt die – warum auch immer – beim Mann, nützen auch die höchsten Einkommen der Frau nichts. Grundlage einer gerechten Verteilung der Ressourcen und der Verfügungsgewalt über sie ist dann tatsächlich das Selbstverständnis der Beteiligten und das Geschlechtermodell, das sie leben. Wie das anzugreifen ist, darüber gibt der Artikel nur eine indirekte Antwort.

Wenn man die Argumentation ernst nimmt, dann beruht das Geschäftsmodell bei der Abschaffung des Ehegattensplittings aber eben auf einigen statistischen Erfahrungswerten und den darauf aufbauenden Erwartungen, nämlich darauf, dass mehr Teilhabe am Erwerbsleben die Selbstermächtigungskräfte der Frauen stärkt und ihre Emanzipation befördert.

Die Argumentation von Fuchs-Schündeln und Tertilt läuft aber noch nicht einmal zentral auf die Selbstermächtigung von Frauen hinaus, die mit mehr verfügbarem eigenem Einkommen auch Bewegungsspielraum bekämen (was nicht abzustreiten ist). Es geht auch nicht darum, auf eine sich ändernde soziale Wirklichkeit zu reagieren, also auf den Niedergang der Ehe durch die Konkurrenz mit nichtehelichen Partnerschaften, die steigende Zahl von Kindern, die nicht ehelich geboren werden und aufwachsen und dergleichen mehr, bis hinzu Patchworkfamilien, mit und ohne Trauschein. Wenn es darum ginge, müssten sich die Verfasserinnen Gedanken dazu machen, wie solche, sagen unnormierten Fälle adäquat aufgefangen und deren Nachteile kompensiert würden. Statt dessen schlagen sie faktisch vor, alle gleich schlecht zu stellen.

Zudem begründen sie ihre Argumentation gegen die gemeinsame Veranlagung auf eine gesamtwirtschaftliche Situation, in der es sträflich wäre, Arbeitspotential ungenutzt zu lassen, zum einen, weil Arbeitskräfte in der alternden Gesellschaft dringend benötigt werden, und zum anderen, weil aus dem vermehrten Einkommen auch sehr starke Wachstumsimpulse generiert würden. Wenn daran aber etwas geändert werden soll, dann müssten die Kosten der Arbeit drastisch gesenkt werden, was aber deutlich zu Lasten des Sozialsystems und der staatlichen Einnahmen gehen würde: keine eigene Krankenversicherung mehr, keine Arbeitslosenversicherung, keine Rentenversicherung – und eben weniger Steuern.


In Richtung Wärmepol

27. April 2020

In der FAS vom 25. April 2021 findet sich das Interview mit einer Bürgemeisterin aus dem Schwarzwald, Hannelore Reinbold-Mench, über die Reaktionen, die der Zuzug eines Wohnprojektes mit 30 Bewohnern in ihrem Ort auslöste. Und über Zugezogene überhaupt.

Das Interview ist recht unaufgeregt, die kleinen Differenzen, die entstehen, wenn Städter mit ihren Gewohnheiten auf Dorfbewohner stoßen, die andere haben, werden recht ausgewogen angesprochen und abgewogen. Eine solche Begegnung hat für beide Seiten ein paar Anforderungen, die bei hinreichender Toleranz allerdings unproblematisch sein dürften. Naheliegend gehört das Grüßen und gehören die persönlichen Kontakte dazu, wenngleich es in einem Ort mit 4200 Einwohnern (Freiamt in Südbaden) Hierarchien, Grüppchen, Feindschaften und anonyme Freiräume geben wird. Für anderes sind selbst solche Orte schon zu groß. Einrichtungen wie Vereine, Schulen, Kitas oder auch politische Parteien dienen ja gerade dazu, solche sozialen Räume zu strukturieren und händelbar zu machen. Aber sie sind eben auch exklusiv und sie erfassen nicht alle Bewohner. Das allgemeine Grüßen ist mithin kaum mehr Konvention, und soziale Kontakte ergeben sich durch Nachbarschaft, Alltagsbegegnungen oder anderes. Soll heißen, wer Kinder hat, integriert sich notgedrungen, weil allein schon die Kinder diesen Integrationsprozess aktiv vorantreiben.

Aufschlussreich ist allerdings die Überschrift des Textes: „Wer ins Dorf zieht, muss sich anpassen.“ Aufschlussreich vor allem deshalb, weil das Zitat so im Interview nicht vorkommt. Zwar spricht Frau Reinbold-Mench an, dass Zugezogene zu einer „bestehenden Gemeinschaft“ dazustoßen, aber sie schließt daran lediglich die Warnung an, nicht zu erwarten, dass sich eine Dorfgesellschaft so ohne weiteres neuen Ideen von bis dahin Externen öffnet. Auch macht sie darauf aufmerksam, dass Zugezogene vom Dorf keine ruhige Idylle erwarten können. Landwirtschaft als semiindustrielle Produktionsform macht gelegentlich Lärm und stinkt ab und an auch heftig. Wer sich daran nicht gewöhnen kann, ist im Dorf ebenso deplatziert wie ein Stadtbewohner, der in der Nähe einer Einfallstraße, einer Fabrik oder eine Schule wohnt.

Aber Reinbold-Mench nimmt solche Probleme wohl eher gelassen hin. Offensichtlich hat sie eine vergleichsweise differenzierte Haltung zur Landflucht von Städtern und zu den Toleranzleistungen, die daraus für beide Seiten folgen. Eine einseitige Anpassung von Zugezogenen aber spricht sie nicht das Wort (weder in Hochdeutsch noch auf Allemannisch).

Das ist wohl eher die Botschaft der Interviewerin als die der Bürgermeisterin. Und jeder, der Orte wie dieses Freiamt in Südbaden kennt, wird wissen, dass auch da nicht jeder jeden grüßt und eine ganze Menge ohne persönliche Kontakte läuft. Man muss weder in Vereine gehen noch seine Nachbarn mögen. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Die Idee der „Gemeinschaft“, die seit Ferdinand Tönnies durch das deutsche Kulturgut geistert, ist eine hartnäckige Utopie, die leider eben auch ziemlich dunkle Schattenseiten hat. Etwa die, dass sie unerstellt, dass man es nicht erlaubt nicht dazuzugehören. Dieses Privileg hat man eben nur in der verfemten Gesellschaft. Kann sein, dass das Leben auf dem Lande gerade mal wieder Konjunktur hat (nicht zuletzt wegen der steigenden Grundstückspreise allenthalben). Aber das ist ja auch nicht das erste Mal.


Jugend ohne Migrationshintergrund

25. April 2021

Ein Flugblatt der Identitären Bewegug tatsächlich im häuslichen Briefkasten. Na sowas, das gibts tatsächlich?! Und na sowas, man kann tatsächlich sowas schreiben: Jugend ohne Migrationshintergrund. Was soll das sein? „Ohne Migrationshintergrund“.

Wenn man Migration – woran man gut tut – nicht auf eine oder zwei Generationen bezieht, sondern ein wenig historisiert, gibt es das nicht. Und selbst in den letzten dreißig Jahren waren die Leute haufenweise unterwegs im Leben. Wer dort hocken geblieben ist, wo er zur Schule gegangen ist, hat vielleicht Glück gehabt oder Pech, muss sich aber nichts drauf einbilden. Heimat kann sich jeder so aussuchen, wie er will. Und Tradition ist nun genau was? Aufmärsche beim Schützenfest?

Viel gegen Schützenfeste – soviel Intoleranz darf sein -, aber wer sich damit befassen will, den soll man nicht daran hindern. Aber zum Nabel der Welt wird damit weder das Dorf noch wirds irgendeine Stadt, nur weil es das da nicht geben mag (Hannover ist da übrigens ganz groß, nebenbei). Am Ende bleibt, dass es solche gibt, die nicht viel herumgekommen sind (nicht mal ihre Vorgängergenerationen, aber man muss aufpassen), und solche, die viel herumgekommen sind. Dann gibts welche, die nicht bleiben wollten, wo sie waren, und welche, die nicht bleiben konnten.

Wenn man das Glück, nicht zu denen zu gehören, die nicht bleiben konnten, dann kann man dieses Glück hoffentlich genießen. Es gibt aber keinen Grund darauf stolz zu sein; es ist kein Verdienst. Und es gibt keinen Grund, sich überlegen zu fühlen. Dafür hat man nichts getan.


Heimat nervt (2)

31. Januar 2021

Wenn man einmal anfängt:

Fall 3:

Im Zeitmagazin vom 21.1.2021 findet sich die Foto-Rubrik „China und ich“, in der die Fotografin Pen Ke „uns ihre Heimat (3)“ zeigt. Im Beitext zum Foto wird von dem Friseursalon berichtet, in dem es entstanden ist. Er helfe der Fotografin, sich an das Leben in der Großstadt zu gewöhnen, in die sie gezogen ist. Das Gebäude, in dem er sich befindet wird demnächst abgerissen. Im Beitext zur Rubrik finden sich die folgenden beiden Sätze: „Peng Ke, 28, lebt als Künstlerin und Fotografin in Shanghai. In den nächsten Monaten wird sie aus ihrem Alltag berichten. „

Zeigt uns Peng Ke nun ihre Heimat oder ihren Alltag oder Ansichten ihres Wohnortes? Am wenigsten eitel ist die letzte Möglichkeit, aber dazu wollen sich auch Zeitmagazin-Redakteure nicht herablassen.

Fall 4:

Am 30./31.1.2021 geht die TAZ mit der Heimat hausieren. Hier ist es der Schriftsteller Alem Grabovac, der „seit Jahren“ „Stichwort-Interviews“ für die TAZ führt. Jetzt wird er selbst interviewt, unter dem Titel: „Ich scheine ein Talent für Heimat zu haben.“ Gezeigt wird ein Foto Grabovacs in der Kastanienallee, die „eine seiner Heimaten“ sei. Im Text kommt er auf insgesamt vier. Immerhin folgt der vierten Heimat die titelgebende Einsicht. Heimat kann also vielfältig sein, immerhin ein Ansatz. Aber warum brauchts dann Heimaten, wenn man sich irgendwo halbwegs wohlfühlt? Und was macht der Mann in seiner dritten Heimat jede Nacht mit einer Bierflache vor einem geschlossenen Friseurladen?


Heimat nervt

29. Januar 2021

Anscheinend zeigt das anhaltende Gerede von Heimat in der Öffentlichkeit Wirkung: Man kommt nicht mehr um sie herum, egal in welchem Zusammenhang. Soll heißen, wenn man schon auf den Sport- und Reiseseiten mit Heimat belästigt wird (bei Kochbüchern und Obstkisten ist das ja schon länger so), dann wird es langsam unangenehm.

Fall 1:

In der FAZ vom 28.  Januar 2021 wird auf der Sportseite vom Empfang Mesut Özils bei seinem neuen Club Fenerbahce Istanbul berichtet, der anscheinend groß aufgezogen worden ist. Bei dieser Gelegenheit hat Özil wohl auch, so der Bericht, „über seine deutsche Heimat“ gesprochen, soll heißen über eine mögliche Rückkehr in die Fußballnationalmannschaft oder die Bundesliga, was er anscheinend entschieden abgelehnt hat. Nun mag man Özils Unterstützung des türkischen Präsidenten Erdogan nicht gutheißen, man mag auch das Ende des vormaligen DFB-Prestigeprojektes Integration bedauern (ohne dabei irgendwem die Schuld daran zuzuschieben).

Özils neues fußballerisches Engagement, das ohne Politik nicht zu haben ist, im Bericht ganz nebenbei aber mit seiner wahren Herkunft („Heimat“ eben) zu diskreditieren, ist allerdings eine kleine Zumutung, eine unnötige Spitze, die eigentlich niemand braucht. Der Kurzschluss Heimat – Fußballnationalmannschaft/Bundesliga ist eh ein bisschen gewagt, auch wenn ein Profi-Fußballer sein Leben in großen Teilen in der Blase Fußballwelt verbringt. Dass Özil in Gelsenkirchen geboren ist, wird im Artikel im Übrigen erst zum Schluss erwähnt, aber das gönnt sich und uns der Verfasser des Artikels immerhin noch.

Fall 2:

In derselben Ausgabe der FAZ, auf den Reiseseiten, wird der Band eines Fotografen (Bernhard Fuchs) mit Motiven aus dem Mühltal vorgestellt (gezeigt wird zweimal Baumstamm, einmal Bach). Bemerkenswert ist, dass im Beitrag eingeräumt wird, dass Fuchs das Mühltal als seine „Herkunftsgegend“ bezeichne. Auch habe Fuchs ausdrücklich nicht Bäche, Felsen und Bäume, sondern Wasser, Stein und Holz fotografiert. Also ein ernstzunehmender Mensch.

Allerdings gesteht ihm der Verfasser des Beitrags das alles nicht zu, anscheinend um den Tenor des Artikels, mit dem der Band ganz konventionell als Selbstpositionierungsprojekt in der Welt mit Anlehnungen an die Philosophie des Transzendentalismus und gleich Adalbert Stifter (den Fuchs anscheinend in der Tat für die Widmung bemüht) beschrieben werden soll, nicht zu gefährden.

Im Vergleich dazu bleibt für die Wortwahl Fuchs‘ dann nur der abfällige Vergleich mit der Inventarliste der Siedler von Catan. Und selbstverständlich (oder vielleicht doch in diesem Fall: natürlich) zeige Fuchs in seinem Band „Heimat, auch wenn er es nicht so nennt“.

Demgegenüber ist nur darauf zu beharren, dass die Wahl des Ortes, wo man sich zuhause fühlen will, immer noch einem selbst vorbehalten bleibt und man sich solche Distanzlosigkeiten doch eigentlich verbittet.