Der schwarze Tristan

Skizze zu Klabund „Der Neger“ (1920)

24. November 2022

Auf der ersten Ebene ist der Text – ein spätexpressionistisches Langgedicht, 1920 in Dresden erschienen – konventionell angelegt: Der mit ursprünglicher Wildheit identifizierte schwarze Sklave des Normannenfürsten Roger beansprucht die Tochter des Herrn für sich, nimmt sie aufgrund seiner überlegenen Potenz, die mit göttlichen Attributen ausgestattet wird (vice versa: der Gott mit dem riesigen Phallus), tötet seinen weißen Nebenbuhler und tötet schließlich auch die begehrte Frau. Dahinter kann stehen die Kritik an der Tödlichkeit männlichen Begehrens oder auch, und ggf potenzierend, das Phantasma vom wilden, erotisch aufgeladenen schwarzen Mann, der die weiße Kultur in den Untergrund stößt, in dem er die weißen Frauen begehrt, beschläft und tötet.

Ein zweiter Blick geht aber weiter:

In dem wird erkennbar, dass die Folie des Textes die mittelalterliche Tristan-Epik ist, mithin ein Konzept, in dem der handlungsmächtige Beauftragte des Königs (hier Tristan) statt des Repräsentanten der Macht (des Königs Marke) die Gattin des Königs mit Recht (weil er ist, der handelt) beansprucht. Dahinter steht das Konzept der Unmittelbarkeit des Handelns, das dem der mittelbaren komplexer Gesellschaftsstrukturen, in denen Handlungsmacht und Repräsentation auseinanderfallen, als überlegen gegenübergestellt wird.

Die frühe Kritik an komplexen Gesellschaften, die sich in der Tristan-Epik des frühen 13. Jh. zeigt, erhält im frühen 20. Jh. neue Aktualität, also in einer Gesellschaft, in der Institutionen und nicht Menschen Macht ausüben, Macht nicht notwendig der hat, der handelt. Moderne Gesellschaften potenzieren das Problem, das in der Tristan-Epik angerissen wird, und sie potenzieren auch die Attraktivität des unmittelbaren Handelns. Das wird erkennbar in der Ablehnung etwa der „Quasselbude“ Parlament und verantwortungslosen, handlungsunwilligen Politikers einerseits und der Attraktivität der Tatmenschen, die etwa der Faschismus zu nutzen wusste, andererseits. Die Tat wird mithin dem Gespräch, dem Diskurs, dem Ausgleich etc. übergeordnet, die Unmittelbarkeit des Handelns erhält in komplexen Gesellschaften einen hohen Reiz.

Die Ausstattung mit dem Herrn Roger und dem namenlosen „Neger“ potenziert das Ganze nun noch. Dabei referiert der Name Roger auf den Normannenfürsten Roger II (1095-1154) von Sizilien, der zu seiner Zeit anscheinend als mächtigster und reichster Fürst Europas gegolten hat und der Großvater Kaiser Friedrichs II von Staufen war – womit er in die deutsche Geschichte hineinwirkt. Die Referenz ist dabei nicht eindeutig und ggf. noch zu klären. Mindestens die zeitliche Einordnung, die Anbindung an die deutsche Geschichte und die Lokalisierung (Sizilien) sind darüber möglich.

Der „Neger“ nun potenziert das Gefälle zwischen dem Namentragenden Herrn und dem unterworfenen Akteur, der aber eigentlich derjenige ist, der handlungsmächtig ist. Damit wird also eine Position, die extrem abgewertet ist, mit einem Mal radikal umgewertet, weil sie handeln kann. Der „Neger“ ist derjenige, der bei der Kriegsfahrt die unterworfenen Feinde erschlägt und der die jüdischen Händler henkt, die den Fürsten betrogen haben. Er steht an der Position, die die Repräsentanten der Macht benötigen, um handeln zu können. Und auch er erhebt Anspruch auf den Lohn für seine Handlungsfähigkeit – und auch hier ist es die Frau, in diesem Fall die Tochter des Fürsten.

Das fatale Ende, in dem der Schwarze die weißen Frauen mit seinem als göttlich apostrophierten Phallus penetriert, um sie anschließend zu töten, verweist aber entweder auf eine radikale Kritik des Tat-Mythos des frühen 20. Jahrhunderts oder auf eine fatale Haltung zu diesem Konzept. Es wird unser aller Ende sein, aber was solls.

Dass der Text mit einer rassischen Auszeichnung des Schwarzen agiert und seine diskreditierende Bedeutung nutzt, ist im Konzept zwingend aufgehoben. Daraus lässt sich eine Haltung Klabunds, dessen Faszination vom Exotischen bekannt genug ist, nicht ableiten, es sei denn zum Thema unmittelbares Handeln und seiner Effekte. Der „Neger“ ist eine Extrembesetzung, er treibt die Grundkonzeption bis zur Erkennbarkeit voran, aber Plot und Ausstattung suspendieren die Kritik vielleicht schon wieder, weil sie mit der Extremausstattung eben auch ein ubiquitäres Abwertungspotenzial von Schwarzen verwendet. Aber aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg.

Klabund: Der Neger. Dresden: Rudolf Kämmerer Verlag 1920


Ferien auf Sagrotan

Astrid Lindgrens Kati-Reihe und der Abbruch des weiblichen Emanzipationsromans

24. September 2022

Astrid Lindgrens „Kati in Italien“, 1952 zuerst auf Schwedisch erschienen, 1953 auf Deutsch, setzt das Konzept der weiblichen Emanzipationsromane aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, wie sie aus Deutschland bekannt sind, fort. Zugleich bricht Lindgren mit diesem Text das Skandalon der Romane Marieluise Feißers, Vicki Baums oder Irmgard Keuns.

Sicher, auch Lindgrens Kati ist berufstätig, und wie es sich gehört, als Sekretärin, die sich – wenigstens grundsätzlich – eben auch der Avancen ihrer männlichen Chefs in Ehekrisen erwehren muss. Ähnliches ist auch Gilgi, Doris oder Frieda widerfahren. Und wenn man den Kreis erweitert, dann wird daraus ein immer wieder kehrendes Muster, das zum weiblichen Berufsleben gehört. Aber Lindgren nimmt dem bereits die Spitze, indem sich die weiblichen Angestellten vor allem kopfschüttelnd über das ungeschickte Vorgehen im angespielten Fall verständigen, ansonsten aber nicht in Gefahr geraten, sich gegen solche Angebote nicht mehr wehren zu können. Und sei es aus materiellen Gründen.

Denn Kati ist wenngleich zu Beginn nicht wohlhabend, immerhin doch so gut ausgestattet, dass sie – gemeinsam mit ihrer Freundin Eva – eine eigene Wohnung halten kann. Ihr Gehalt ist knapp, aber halbwegs auskömmlich. Dies ist aber in den Romanen der späten 1920er und frühen 1930er Jahren nicht zwingend gegeben, so dass die Liaison am Arbeitsplatz als eine Möglichkeit vorgeführt wird, sich aus der materiellen Zwangslage zu befreien. Wie auch die Verbindung mit einem älteren, wohlhabenden Mann, wie dies noch in Helen Wolffs soeben aus dem Nachlass erschienenen Roman „Hintergrund für Liebe“, der gleichfalls aus den 1930er Jahren stammt, erkennbar vorgeführt und diskutiert wird. Doris entkommt der Prostutionsfalle gleichfalls nur knapp, während Frieda Geier immerhin einen, wenngleich nicht zweifelsfreien Beruf hat, den sie nicht aufgibt. Sie ist Mehlreisende.

Die materielle Zwangslage, die zu zweifelhaften Verbindungen führt, fehlt in Lindgrens Roman (fast) völlig. Eva erwähnt einmal den Millionär, den sie eigentllich bräuchte, der aber in der Kürze der Zeit nicht herbeizuschaffen ist. Aber unabhängig davon, das Fehlen der materiellen Not eröffnet die Möglichkeit, die persönlliche Liebeswahl in den Vordergrund zu stellen. Also kein wohlwollendes „Grünes Moos“ oder den proletarischen Kameraden, wie im „Kunstseidenen Mädchen“ Irmgard Keuns, sondern ein Verhältnis aus freien Stücke und ohne Zwang.

Damit das auch sinnfällig wird, lernt Kati ihren Lennart in Venedig kennen, trifft ihn in Rom wieder und bekennt freimütig und einseitig ihre Liebe. Damit bricht der Roman aber, so sehr er die freie Wahl der Frau auch zu feiern vorgibt, mit dem eigentlichen Skandal der Vorgängerinnen, dass nämlich im Liebesverhältnis zugleich der Aufstieg von Frauen zur Selbstbestimmung vorgeführt und reflektiert wird.

Liebschaften sind damit in den frühen Romanen die Folie, auf der die Bedingungen diskutiert werden, unter denen Frauen selbständig sein können. Und da spielen Männer eben eine spezifische, nicht immer gute Rolle, selbst dann nicht, wenn sie wohlwollend sind.

Das Pendant zum „Zimmer für sich allein“ Virginia Woolfs ist der soziale Raum der Selbstbestimmung allgemein. Der wird in Lindgrens Roman jedoch für die Totalität der persönlichen Partnerwahl aufgegeben. Die Frau wählt zwar ihren Mann, aber dann nur deshalb, um in dieser Beziehung aufzugehen.

Was sie in „Kati in Paris“ (1953 in Schweden erschienen) dann auch klarsichtig kommentiert: „Erst vor einem Jahr hatte ich Jan gesagt: Nun ja, ich würde mich wohl mit ihm verheiraten, aber vorher müsse ich versuchen zu erfahren, wie es wäre, selbständig zu sein und auf eigenen Füßen zu stehen (…). / Da kam Lennart. Und da zeigte sich, daß dies alles nur Geschwätz war. / Ich war bereit, in jeder Sekunde meine Selbständigkeit aufzugeben, und hatte keinen größeren Wunsch, als jemanden zu haben, der sich meiner annahm. Vorausgesetzt, daß dieser Jemand Lennart war!“

Das Muster aus Keuns „Gilgi“ ist noch zu erkennen, und auch hier folgen die Bemühungen, sich in ein neues Leben, jetzt mit Mann, einzugewöhnen. Die wichtigste Abweichungen sind: Der Mann gehört Katis Generation und zu ihrem sozialen Referenzbereich, er ist, wenngleich noch angehender Anwalt, aber eben nicht älter und wohlhabend. Es folgen das Kind und der Abschied vom Büro (Kati kehrt wohl nicht zurück) – womit sie dann den Weg einschlägt, den man in der Nachkriegszeit erwartet. Kein Aufbruch in die große Stadt, um sich und das Kind durchzubringen, sondern der Rückzug auf die Trias von Mutter, Kind und so eben noch Mann. Der Fokus wird neu ausgerichtet. Sogar die beste Freundin Eva wird unter die Druckmaschinenverkäuferhaube gebracht.

Dabei kann man weder der Autorin noch ihren Figuren (die immerhin keine Intellektuellen sind) nicht nachsagen, dass sie in einer kleiner heilen Welt leben. Kati nimmt das soziale Gefälle in ihrem Umfeld durchaus wahr. Und sie vertreibt sich die Zeit in Paris eben nicht nur auf den Vergnügungsmeilen, den Mode-, vor allem aber Hutläden oder den amourösen Stätten, die einem frisch verheirateten Paar so eben noch zustehen. Sie kommen in einem Hotel unter, in dem Robbespierre gewohnt haben soll und die junge Madame Curie. Sie kennen ihren Schopenhauer und was er zur weiblichen Attraktivität zu sagen hat (Hans Castorp hatte vergleichbare Lektüren), und Eva kauft sich Baudelaires „Blumen des Bösen“.

Dennoch bricht Lindgren mit dem reflexiven Moment der Konzepte weiblicher Emanzipation der frühen 1930er Jahre- und das ist bemerkenswert.


Unzuverlässige Erzähler

Dürfen Autor/innen reale Geschichten als Vorlage nehmen?

7. Oktober 2021

In der TAZ berichtet Emili Glaser von einem Text einer amerikanischen Autorin (Kristen Roupenian), der Gegenstand einer bemerkenswerten Diskussion geworden ist. In diesem Text („Cat Person“) wird die Liaison eines älteren Mannes (Robert, 34, irgendwas) mit einer „deutlich jüngeren Frau (Margot, 20, Studentin) erzählt, die kräftig daneben geht. Die Story hat wohl im Kontext der #Metoo-Diskussionen für einiges Aufsehen gesorgt, und – folgt man dem Bericht in der TAZ vom 5. Oktober 2021 – auch der Autorin zu einigem Ansehen verholfen. Der New Yorker hatte den Text im Dezember 2017 gedruckt, auf der website ist er immer noch nachzulesen (https://www.newyorker.com/magazine/2017/12/11/cat-person).

Im Juli des Jahres erschien nun der Text einer anderen Autorin, Alexis Nowicki, in der dieser bekennt, nicht nur sich im Text Roupenians wiedererkannt zu haben und nicht nur ihren an Covid verstorbenen ehemaligen Partner namens Charles, sondern auch ihre Geschichte, allerdings mit einigen Verschiebungen, die ihr nicht gefallen haben oder denen sie zugesteht, mit der eigenen Geschichte nichts zu tun zu haben. Das Problem besteht zudem nicht nur darin, dass sie sich als Vorlage erkannt hat, sondern auch darin sie sich nicht erklären kann, woher Roupenian derart viele Details ihrer Geschichte kennt. Und dass sie sich öffentlich entblößt fühlt.

Was daran schwierig sei, die eigene Beziehung in einer Short Story aufgezeichnet und erinnert zu sehen, sei dass nun Millionen Menschen diese Beziehung so kennen, wie sie eine Fremde beschrieben habe, schreibt Nowicki am Ende ihres Essays (zu finden unter bei slate.com unter: https://slate.com/human-interest/2021/07/cat-person-kristen-roupenian-viral-story-about-me.html). Wie sie dann herausgefunden hat, haben sich Roupenian und dieser Charles im übrigen tatsächlich gekannt, was zu der schnurrigen Volte führt, dass die Grundlage der aus der Perspektive Margots geschriebenen Story eine Geschichte ist, die ihr ein Mann über wenigstens den Beginn einer Beziehung erzählt haben mag.

Und schon beginnt eine Debatte darüber, ob Kunst das darf, zum einen, reale Personen zum Vorbild zu nehmen, und zum anderen die Geschichte so zu fassen, dass sie deutlich von der Vorlage abweicht, was aber nichts hilft, wenn sich Leute vorher in den Vorlagen wiedererkannt haben.

Merkwürdig daran ist, dass sich Leute tatsächlich in Texten anderer wiedererkennen, dass sie sich abgebildet fühlen, dass sie – mehr noch – sogar glauben, in diesen Texten vorzukommen. Die Autorinnen, die in der TAZ-Ausgabe von Dienstag zu der Diskussion Stellung nehmen, lassen das wenigstens durchweg erkennen.

Denn auch wenn man es mit der Autonomie der Kunst nicht hat – Kunst kann und soll ja etwas mit dem wirklichen Leben zu tun hat – ist ihr fiktionaler Charakter, ja ihre – hochtrabend formuliert – ontologische Differenz zum Leben unübersehbar. Und noch eins drauf: Auch wenn reale Vorlagen nicht zu umgehen sind, darf Literatur zugleich keine realen Personen verletzen, da ist man heute pingelig. Wie das gehen soll, wenn sie sich dauernd wiedererkennen wollen, weiß man nicht. Denn sich in literarischen Texten wiedererkennen zu wollen, ist eine sehr aktive Entscheidung, die darüber hinweggehen muss, dass Texte in der Regel nicht präzise genug sind, um eine Wiedererkennbarkeit zu ermöglichen und zudem Figuren textlich umschreiben müssen, und nicht abbilden. Eine Beschreibung wie: Ein großer, schlanker Mann mit grauem Haar, blauen Augen, zwischen 55 und 65, grenzt bestenfalls einen phänomenologischen Typus ein, mehr aber auch nicht.

Wie also erkennt Nowicki (und anscheinend einige ihrer Freunde), dass die Story von Roupenian von ihr handelt? Ein zwei Blicke also:

Was sie von der Geschichte zwischen ihrem Ex und sich erzählt, lässt Parallelen erkennen und Abweichungen. Es ist vor allem der Anfang der Story im Kino, das Auftreten beider (flirtende junge Verkäuferin, stieseliger Kunde), der Umstand, dass der Mann groß ist, einigermaßen ansehnlich, aber ein bisschen übergewichtig, sein Tatoo, die Handlungsorte („my workplace, my hometown, his appearance, the location of our firstdate“, schreibt Nowicki an einer Stelle, an einer anderen kommen einige Details hinzu, vor allem was den Kleidungsstil angeht, die gerahmten Poster, eine Spielesammlung im Haus Roberts/Charles). Außerdem weist sie auf einige Details hin, die stark an ihre Geschichte mit Charles erinnern, sein kryptischer Kommunikationsstil, wie sie selbst ihn habe beeindrucken wollen, die Blödeleien um ihre Katzen, die sie über ihre Smartphones austauschen, sogar der Ort ihres ersten Zusammentreffens, ein Multiplex-Kino, komme vor, und dass sie beide nicht vor dem ersten Date berühren. Das sind immerhin einige Auszeichnungen, die aber immer noch derart unspezifisch sind, dass es einiger Anstrengung bedarf, sich oder diese Geschichte darin wiederzuerkennen.

Immerhin hat Nowicki einiges Misstrauen in Roupenians Eingeständnis, dass sie von Charles und Nowickis halbwegs skandalöser Geschichte (älterer Mann, junge Frau mit allem, was dazugehört) wusste, die Details aber aus den Social Media entnommen habe und daraus ihre Story entwickelt habe. Es sind immerhin einige Details, die sie stören, aber auch das hängt wohl mehr mit der Prämisse zusammen, dass hier ihre Geschichte von jemandem erzählt wird, der dazu kein Recht hat.

Dem steht allerdings entgegen, dass der Verlauf der Story anders ist als der zwischen Nowicki und Charles: Die Story beendet die Beziehung in dem Moment, in dem sich Robert entkleidet. Margot schläft zwar noch mit ihm, was offensichtlich nicht genussvoll ist. Sie macht das trotzdem, unter anderem weil der Aufwand, sich jetzt noch aus der Sache rauszureden, größer wäre, als sie durchzuziehen (wie im Text zu lesen ist). Aber danach ist Schluss, alles was dann noch folgt, sind Abschlussgefechte, in denen sich beide keine Lorbeeren verdienen, aber das kann man auch lesen wie man will. Die Schlussstexte von Robert, die Margot nicht mehr beantwortet, zeigen ihn jedenfalls von einer ziemlich miesen Seite. Die Story endet in einer wüsten Beschimpfung Margots durch Robert als Hure, während sich Kirsten und Charles erst nach einiger Zeit trennen und noch bis zu seinem Tod Kontakt hatten. Was unter bösen Freundinnen und Freunden zu der Frage führt, weshalb nicht Margot bei Robert, sondern Kristen so lange bei Charles geblieben ist. Der denkwürdige Subtext bei Nowicki ist denn auch. Nebenbei bemerkt, das permanente Misstrauen in das Verhältnis der jungen Frau zum älteren Mann, das ja auch wenigstens der Anreger für Roupenians Story war. Ein solches Verhältnis ist verdächtig, bietet Gegenstand für Vermutungen und hat im Kontext der Missbrauchsvorwürfe in hierarchischen Gefällen wenigstens einen bedrohlichen Unterton. Aber was das angeht, sind wir dann in der wirklichen Welt und ihren Auszeichnungen angelangt.

Im Grundsatz  aber und jenseits davon, dass wir alle unzuverlässige Erzähler sind, wie ja auch Nowicki weiß, liegen die Unterschiede zwischen der „realen“ Geschichte Nowickis und der Story Roupenians vor allem darin, dass das eine eine Erinnerung transformiert in einen biografischen Text, das andere aber eine Kurzgeschichte ist, also Erzählungen, die unterschiedliche Positionen in der Lebenswelt haben. Selbst also wenn die eine, die fiktionale Erzählung, die andere, die biografische zur Grundlage nimmt, macht sie doch was anderes draus. Nowickis Erzählung zielt auf etwas anderes ab als die Roupenians. Aber darüber hinaus: So wie beide jetzt vorliegen, ist Nowickis Erzählung vor allem ein Kommentar zu der Roupenians, der vor allem moniert, die wahr Geschichte falsch erzählt zu haben, was immer das sein soll.


Wann hört Demokratie auf?

Milo Rau beklagt in der TAZ den Verrat der Grünen

6. Oktober 2021

Das Verhältnis politischer Bewegungen zur Demokratie ist immer dann auf die Probe gestellt, wenn sie bei Wahlen – gegen jede Erwartung – nicht erfolgreich genug sind, soll heißen zu stärksten Kraft herangewachsen sind, die alle anderen verdrängen und zur Bedeutungslosigkeit verurteilen können. Das zeigt sich zuletzt in einem Essay Milo Raus in der TAZ vom 5. Oktober 2021, in der er das Ergebnis der Bundestagswahl nicht zum Anlass nimmt, darüber nachzudenken, wie denn eine ökologische Partei bei Wahlen erfolgreicher werden kann, sondern – angesichts der als aussichtslos und tödlich ausgezeichneten Situation – Taten von den „Aktivist*innen Europas“ fordert. Die Grünen schreibt er ab, weil sie sich zu Vorgesprächen zu Koalitionsverhandlungen entschieden haben. Das Selfie der Grünen- und FDP-Verhandlungsführer aus der Sondierung kanzelt er als „Verrat“ ab. Die Wahl wird als „Move der Mächtigen“, der dem Machterhalt dient, und zugleich als politische Verdrängungsleistung“ diskreditiert.

Als Resultat der Wahl sieht Rau eine Bestätigung des Status Quo, mithin eine Zuspitzung der ökologischen Krise, die zum Handeln zwingt, weil die Alternative der Untergang zumindest der ärmeren Teile der Menschheit wäre: „Die Lage ist nicht ‚spannend‘, also dramatisch, sondern ausweglos, also tragisch.“

Damit trägt Rau eine alte Dichotomie politische Handelns weiter fort, in der Wahlen, also das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung, und politischen Handeln, also das interessegeleitete Aushandeln von Handlungsmöglichkeiten und deren Umsetzung, schlicht suspendiert werden. An deren Stelle wird die Eindeutigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, an der keine Abstriche zulässig sind, und die Notwendigkeit gesetzt, die politische Klasse, die Mächtigen („das System“) zu beseitigen, für die der Machterhalt im Vordergrund steht.

Was in Raus Essay fehlt ist die Konsequenz seiner Suspendierung von Politik und Wahl – nämlich eine ökologisch grundierte Diktatur, die einzig als handlungsfähig angesehen wird. Der Hebel zu deren Umsetzung ist der politische Massenprotest. Die Handlungsbevollmächtigten eines solchen Systems werden aus aus der Massenbewegung heraus rekrutiert und womöglich auch durch sie legitimiert. Abweichende Positionen werden nicht berücksichtigt oder im Laufe des Prozesses bereinigt. Was weitere Konsequenzen fordert, in deren Zentrum die unbedingte Handlungsfähigkeit des Systems steht.

Keine Frage, dass politische Massenproteste im demokratischen System ihren legitimen Ort haben. Aber ebenso wenig ist fraglich, dass die Umsetzung politischer Ziele, zu denen der ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft gehören, ein langwieriger und schwieriger Prozess ist, der mit vielen, eben auch widerstreitenden Interessen rechnen muss. Bequemlichkeit ist da nicht gefragt, und dazu gehört die vollmundige Diskreditierung von Politik und Wahlergebnissen ebenso wie die Fokussierung auf die demonstrierenden Massen als entscheidender Faktor. Die Mühen beginnen immer erst, und Unbedingtheit weder ein guter Ratgeber noch ein praktikables Handlungsprinzip.


Angst vom Schwarzen Mann?

6. August 2021

In der TAZ vom 4. August 2021 listet Renate Kraft eine Reihe von Texten auf, die sich mit der Kolonialherrschaft in der Karibik beschäftigen. Literatur sei hier „Zeugnis der Verdrängung zum Beispiel von der Grausamkeit der Kolonialherrschaft“ (Renate Kraft: Bilder von Zuckerinseln, in TAZ v. 4.8.2021). Unter den Texten, die sie vorstellt, ist Heinrich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ aus dem Jahr 1811. Eine der zentralen Figuren ist der ehemalige Sklave Congo Hoango, der sich trotz der privilegierten Behandlung durch seinen zeitweiligen Herrn gleich zu Anfang des Aufstands in der Kolonie gegen die Kolonialmacht stellt und deren Repräsentanten, seinen vormaligen Herrn als allererstes, umbringt. Congo Hoango wird als grausamer, gewalttätiger scharzer Mann eingeführt, bleibt in der Folge aber weitgehend im Hintergrund, als stete Drohung, die jederzeit zurückkehren kann, um jeden Weißen, der ihm in die Fänge gerät, umzubringen. Die Geschichte, die Kleist erzählen will, beginnt damit, dass die Tocher seiner Gefährtin Babekan in Liebe zu einem Schweizer, mithin weißen Flüchtling fällt, der an die Hintertür des ehemaligen Gutshauses klopft, in dem Congo Hoango nun lebt, und um Schutz für sich und seinen Tross bittet.

Congo Hoango ist außer Haus, die zurückgebliebene Babekan geht zum Schein auf die Bitte Schutzsuchenden ein, versucht die verhassten Weißen aber solange hinzuhalten, bis Congo Hoango zurück ist. Ihre Tochter Toni, eine Mestizin, von ungeheurer Schönheit, dient dazu als Lockvogel. Aber wie es die Geschichte will, Toni und der Schweizer, ein gewisser Gustav von der Ried, fallen in Liebe zueinander. Zur Unzeit, Hoango kehrt zurück, die Situation eskaliert. Tonis Versuch, den Geliebten und seine Verwandten zu retten, scheitert tragisch, soll heißen, der liebende Mann tötet seine Geliebte, weil er sich verraten fühlt, als er erkennt, dass er geirrt hat, tötet er sich selbst. Die verbliebenen Schweizer Flüchtlingen kommen ungeschoren davon.

Der Text ist – wie stets bei Kleist – irritierend, die Einführung Congo Hoangos ist extrem. Zutreffend ist auch, dass Kleist als Erzähler, mitteilt dass die Geschichte aus einer Zeit stamme, in der „die Schwarzen die Weißen ermordeten“. Womit er – aus Sicht von Renate Kraft – das rassistische Muster bedient, denn er verschweige, dass „im Verlauf von Revolution und Befreiungskrieg (anzunehmen ist, dass der Befreiungskrieg des späteren Haiti gemeint ist) etwa zweieinhalbmal soviele Schwarze umkamen wie Weiße“. Außerdem habe Kleist mit der Figur des Congo Hoango „das Schreckensbild vom bösen schwarzen Mann mitverbreitet – eine paranoide Vorstellung, die aus der Weigerung der Europäer entstand, die eigene koloniale Gewalt anzuerkennen“.

Nun kann man literarischen Texten wohl entnehmen, was einem beliebt, dennoch darf behauptet werden, dass diese Interpretation Krafts am Text Kleists vorbeigeht. Das beginnt beim einführenden Satz der Erzählung, in dem schon alle Themen untergebracht sind, die Kraft stören: “ Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger namens Congo Hoango.“

Damit hat es sich schon aber auch schon fast; sicher der Hinterhalt für fliehende Weiße wird geschildert, Gustav von der Ried gerät hinein, die Rückkehr Congo Hoangos, oder des „Negers Hoango“ wird jederzeit erwartet, er kommt auch früher heim als angekündigt, aber von seiner Urgewalt ist wenig im Text zu spüren. Ganz im Gegenteil, er muss sich der List Tonis und der anderen Schweizer fügen und sie ziehen lassen. Was offensichtlich gegen den Anfang des Textes gesetzt ist.

Aber die Erzählung interessiert Kraft ja nicht, sondern lediglich der „falsche“ Satz zu Beginn und das negative Bild des schwarzen Mannes. Statt das Konzept des Textes zu beschreiben und daraus zu bestimmen, wie zum einen der Satz des Erzählers begründet und zum anderen die Anlage der Figur Congo Hoango angelegt ist, beschränkt sich Kraft also auf eine Art Musterdropping: Der Satz über das Töten von Weißen wird nicht als Verweis auf die Umkehrung der Verhältnisse gesehen, sondern als falsifizierbare Tatsachenbehauptung, die die Verantwortung von Weißen mindern soll. Ähnliches geschieht mit der Figur Congo Hoangos, der eben als Personifzierung des wilden, grausamen, schwarzen Mannes von allen sonstigen Bedeutungen für den Text abstrahiert wird. Dass er für die gewaltsame, ja grausame und konsequente revolutionäre Befreiungstat stehten mag, die von einer Instanz verkörpert wird, die in der konventionellen Gesellschaftsstruktur der Zeit, eben als Sklave, ganz unten steht, bleibt außen vor.

Bliebe man also bei Krafts knapper Deutung, hätte Kleist nicht schreiben dürfen, das Schwarze Weiße töten, weil er damit verdeckt, dass mehr Schwarze als Weiße in den damaligen Auseinandersetzungen umgebracht worden sind. Und er hätte Congo Hoango nicht grausam und verschlagen agieren lassen dürfen, weil er damit das Schreckensbild des Schwarzen Mannes mit verbreitet hat.

Hätte Kleist aber auf beides verzichtet, hätte er – konsequent – diese Erzählung nicht schreiben können und dürfen. Ein Text weniger, der Unrecht für Recht ausgibt, wäre also in der Welt.

Oder die Irritation, die sich bei der Lektüre des Textes einstellen kann, wird als das genommen, was sie wohl sein soll: der Versuch, das wohlfeile Einverständnis mit der Welt, wie sie ist, zu erschüttern einerseits, und andererseits die Legitimität der aufständischen Gewalt (in Kleists Fall eigentlich gegen die napoleonische Fremdherrschaft) drastisch zu feiern. Das eine mag uns wohl bis heute gefallen, das zweite angesichts des zweifelhaften Charakters der antinapoleonischen Front nicht wirklich freuen. Und schließlich, alle Schrecklichkeit nützt weder den Schwarzen noch dem schwarzen Mann, wenn ihre Feinde schließlich davon kommen.