Ferien auf Sagrotan

Astrid Lindgrens Kati-Reihe und der Abbruch des weiblichen Emanzipationsromans

24. September 2022

Astrid Lindgrens „Kati in Italien“, 1952 zuerst auf Schwedisch erschienen, 1953 auf Deutsch, setzt das Konzept der weiblichen Emanzipationsromane aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, wie sie aus Deutschland bekannt sind, fort. Zugleich bricht Lindgren mit diesem Text das Skandalon der Romane Marieluise Feißers, Vicki Baums oder Irmgard Keuns.

Sicher, auch Lindgrens Kati ist berufstätig, und wie es sich gehört, als Sekretärin, die sich – wenigstens grundsätzlich – eben auch der Avancen ihrer männlichen Chefs in Ehekrisen erwehren muss. Ähnliches ist auch Gilgi, Doris oder Frieda widerfahren. Und wenn man den Kreis erweitert, dann wird daraus ein immer wieder kehrendes Muster, das zum weiblichen Berufsleben gehört. Aber Lindgren nimmt dem bereits die Spitze, indem sich die weiblichen Angestellten vor allem kopfschüttelnd über das ungeschickte Vorgehen im angespielten Fall verständigen, ansonsten aber nicht in Gefahr geraten, sich gegen solche Angebote nicht mehr wehren zu können. Und sei es aus materiellen Gründen.

Denn Kati ist wenngleich zu Beginn nicht wohlhabend, immerhin doch so gut ausgestattet, dass sie – gemeinsam mit ihrer Freundin Eva – eine eigene Wohnung halten kann. Ihr Gehalt ist knapp, aber halbwegs auskömmlich. Dies ist aber in den Romanen der späten 1920er und frühen 1930er Jahren nicht zwingend gegeben, so dass die Liaison am Arbeitsplatz als eine Möglichkeit vorgeführt wird, sich aus der materiellen Zwangslage zu befreien. Wie auch die Verbindung mit einem älteren, wohlhabenden Mann, wie dies noch in Helen Wolffs soeben aus dem Nachlass erschienenen Roman „Hintergrund für Liebe“, der gleichfalls aus den 1930er Jahren stammt, erkennbar vorgeführt und diskutiert wird. Doris entkommt der Prostutionsfalle gleichfalls nur knapp, während Frieda Geier immerhin einen, wenngleich nicht zweifelsfreien Beruf hat, den sie nicht aufgibt. Sie ist Mehlreisende.

Die materielle Zwangslage, die zu zweifelhaften Verbindungen führt, fehlt in Lindgrens Roman (fast) völlig. Eva erwähnt einmal den Millionär, den sie eigentllich bräuchte, der aber in der Kürze der Zeit nicht herbeizuschaffen ist. Aber unabhängig davon, das Fehlen der materiellen Not eröffnet die Möglichkeit, die persönlliche Liebeswahl in den Vordergrund zu stellen. Also kein wohlwollendes „Grünes Moos“ oder den proletarischen Kameraden, wie im „Kunstseidenen Mädchen“ Irmgard Keuns, sondern ein Verhältnis aus freien Stücke und ohne Zwang.

Damit das auch sinnfällig wird, lernt Kati ihren Lennart in Venedig kennen, trifft ihn in Rom wieder und bekennt freimütig und einseitig ihre Liebe. Damit bricht der Roman aber, so sehr er die freie Wahl der Frau auch zu feiern vorgibt, mit dem eigentlichen Skandal der Vorgängerinnen, dass nämlich im Liebesverhältnis zugleich der Aufstieg von Frauen zur Selbstbestimmung vorgeführt und reflektiert wird.

Liebschaften sind damit in den frühen Romanen die Folie, auf der die Bedingungen diskutiert werden, unter denen Frauen selbständig sein können. Und da spielen Männer eben eine spezifische, nicht immer gute Rolle, selbst dann nicht, wenn sie wohlwollend sind.

Das Pendant zum „Zimmer für sich allein“ Virginia Woolfs ist der soziale Raum der Selbstbestimmung allgemein. Der wird in Lindgrens Roman jedoch für die Totalität der persönlichen Partnerwahl aufgegeben. Die Frau wählt zwar ihren Mann, aber dann nur deshalb, um in dieser Beziehung aufzugehen.

Was sie in „Kati in Paris“ (1953 in Schweden erschienen) dann auch klarsichtig kommentiert: „Erst vor einem Jahr hatte ich Jan gesagt: Nun ja, ich würde mich wohl mit ihm verheiraten, aber vorher müsse ich versuchen zu erfahren, wie es wäre, selbständig zu sein und auf eigenen Füßen zu stehen (…). / Da kam Lennart. Und da zeigte sich, daß dies alles nur Geschwätz war. / Ich war bereit, in jeder Sekunde meine Selbständigkeit aufzugeben, und hatte keinen größeren Wunsch, als jemanden zu haben, der sich meiner annahm. Vorausgesetzt, daß dieser Jemand Lennart war!“

Das Muster aus Keuns „Gilgi“ ist noch zu erkennen, und auch hier folgen die Bemühungen, sich in ein neues Leben, jetzt mit Mann, einzugewöhnen. Die wichtigste Abweichungen sind: Der Mann gehört Katis Generation und zu ihrem sozialen Referenzbereich, er ist, wenngleich noch angehender Anwalt, aber eben nicht älter und wohlhabend. Es folgen das Kind und der Abschied vom Büro (Kati kehrt wohl nicht zurück) – womit sie dann den Weg einschlägt, den man in der Nachkriegszeit erwartet. Kein Aufbruch in die große Stadt, um sich und das Kind durchzubringen, sondern der Rückzug auf die Trias von Mutter, Kind und so eben noch Mann. Der Fokus wird neu ausgerichtet. Sogar die beste Freundin Eva wird unter die Druckmaschinenverkäuferhaube gebracht.

Dabei kann man weder der Autorin noch ihren Figuren (die immerhin keine Intellektuellen sind) nicht nachsagen, dass sie in einer kleiner heilen Welt leben. Kati nimmt das soziale Gefälle in ihrem Umfeld durchaus wahr. Und sie vertreibt sich die Zeit in Paris eben nicht nur auf den Vergnügungsmeilen, den Mode-, vor allem aber Hutläden oder den amourösen Stätten, die einem frisch verheirateten Paar so eben noch zustehen. Sie kommen in einem Hotel unter, in dem Robbespierre gewohnt haben soll und die junge Madame Curie. Sie kennen ihren Schopenhauer und was er zur weiblichen Attraktivität zu sagen hat (Hans Castorp hatte vergleichbare Lektüren), und Eva kauft sich Baudelaires „Blumen des Bösen“.

Dennoch bricht Lindgren mit dem reflexiven Moment der Konzepte weiblicher Emanzipation der frühen 1930er Jahre- und das ist bemerkenswert.


Unzuverlässige Erzähler

Dürfen Autor/innen reale Geschichten als Vorlage nehmen?

7. Oktober 2021

In der TAZ berichtet Emili Glaser von einem Text einer amerikanischen Autorin (Kristen Roupenian), der Gegenstand einer bemerkenswerten Diskussion geworden ist. In diesem Text („Cat Person“) wird die Liaison eines älteren Mannes (Robert, 34, irgendwas) mit einer „deutlich jüngeren Frau (Margot, 20, Studentin) erzählt, die kräftig daneben geht. Die Story hat wohl im Kontext der #Metoo-Diskussionen für einiges Aufsehen gesorgt, und – folgt man dem Bericht in der TAZ vom 5. Oktober 2021 – auch der Autorin zu einigem Ansehen verholfen. Der New Yorker hatte den Text im Dezember 2017 gedruckt, auf der website ist er immer noch nachzulesen (https://www.newyorker.com/magazine/2017/12/11/cat-person).

Im Juli des Jahres erschien nun der Text einer anderen Autorin, Alexis Nowicki, in der dieser bekennt, nicht nur sich im Text Roupenians wiedererkannt zu haben und nicht nur ihren an Covid verstorbenen ehemaligen Partner namens Charles, sondern auch ihre Geschichte, allerdings mit einigen Verschiebungen, die ihr nicht gefallen haben oder denen sie zugesteht, mit der eigenen Geschichte nichts zu tun zu haben. Das Problem besteht zudem nicht nur darin, dass sie sich als Vorlage erkannt hat, sondern auch darin sie sich nicht erklären kann, woher Roupenian derart viele Details ihrer Geschichte kennt. Und dass sie sich öffentlich entblößt fühlt.

Was daran schwierig sei, die eigene Beziehung in einer Short Story aufgezeichnet und erinnert zu sehen, sei dass nun Millionen Menschen diese Beziehung so kennen, wie sie eine Fremde beschrieben habe, schreibt Nowicki am Ende ihres Essays (zu finden unter bei slate.com unter: https://slate.com/human-interest/2021/07/cat-person-kristen-roupenian-viral-story-about-me.html). Wie sie dann herausgefunden hat, haben sich Roupenian und dieser Charles im übrigen tatsächlich gekannt, was zu der schnurrigen Volte führt, dass die Grundlage der aus der Perspektive Margots geschriebenen Story eine Geschichte ist, die ihr ein Mann über wenigstens den Beginn einer Beziehung erzählt haben mag.

Und schon beginnt eine Debatte darüber, ob Kunst das darf, zum einen, reale Personen zum Vorbild zu nehmen, und zum anderen die Geschichte so zu fassen, dass sie deutlich von der Vorlage abweicht, was aber nichts hilft, wenn sich Leute vorher in den Vorlagen wiedererkannt haben.

Merkwürdig daran ist, dass sich Leute tatsächlich in Texten anderer wiedererkennen, dass sie sich abgebildet fühlen, dass sie – mehr noch – sogar glauben, in diesen Texten vorzukommen. Die Autorinnen, die in der TAZ-Ausgabe von Dienstag zu der Diskussion Stellung nehmen, lassen das wenigstens durchweg erkennen.

Denn auch wenn man es mit der Autonomie der Kunst nicht hat – Kunst kann und soll ja etwas mit dem wirklichen Leben zu tun hat – ist ihr fiktionaler Charakter, ja ihre – hochtrabend formuliert – ontologische Differenz zum Leben unübersehbar. Und noch eins drauf: Auch wenn reale Vorlagen nicht zu umgehen sind, darf Literatur zugleich keine realen Personen verletzen, da ist man heute pingelig. Wie das gehen soll, wenn sie sich dauernd wiedererkennen wollen, weiß man nicht. Denn sich in literarischen Texten wiedererkennen zu wollen, ist eine sehr aktive Entscheidung, die darüber hinweggehen muss, dass Texte in der Regel nicht präzise genug sind, um eine Wiedererkennbarkeit zu ermöglichen und zudem Figuren textlich umschreiben müssen, und nicht abbilden. Eine Beschreibung wie: Ein großer, schlanker Mann mit grauem Haar, blauen Augen, zwischen 55 und 65, grenzt bestenfalls einen phänomenologischen Typus ein, mehr aber auch nicht.

Wie also erkennt Nowicki (und anscheinend einige ihrer Freunde), dass die Story von Roupenian von ihr handelt? Ein zwei Blicke also:

Was sie von der Geschichte zwischen ihrem Ex und sich erzählt, lässt Parallelen erkennen und Abweichungen. Es ist vor allem der Anfang der Story im Kino, das Auftreten beider (flirtende junge Verkäuferin, stieseliger Kunde), der Umstand, dass der Mann groß ist, einigermaßen ansehnlich, aber ein bisschen übergewichtig, sein Tatoo, die Handlungsorte („my workplace, my hometown, his appearance, the location of our firstdate“, schreibt Nowicki an einer Stelle, an einer anderen kommen einige Details hinzu, vor allem was den Kleidungsstil angeht, die gerahmten Poster, eine Spielesammlung im Haus Roberts/Charles). Außerdem weist sie auf einige Details hin, die stark an ihre Geschichte mit Charles erinnern, sein kryptischer Kommunikationsstil, wie sie selbst ihn habe beeindrucken wollen, die Blödeleien um ihre Katzen, die sie über ihre Smartphones austauschen, sogar der Ort ihres ersten Zusammentreffens, ein Multiplex-Kino, komme vor, und dass sie beide nicht vor dem ersten Date berühren. Das sind immerhin einige Auszeichnungen, die aber immer noch derart unspezifisch sind, dass es einiger Anstrengung bedarf, sich oder diese Geschichte darin wiederzuerkennen.

Immerhin hat Nowicki einiges Misstrauen in Roupenians Eingeständnis, dass sie von Charles und Nowickis halbwegs skandalöser Geschichte (älterer Mann, junge Frau mit allem, was dazugehört) wusste, die Details aber aus den Social Media entnommen habe und daraus ihre Story entwickelt habe. Es sind immerhin einige Details, die sie stören, aber auch das hängt wohl mehr mit der Prämisse zusammen, dass hier ihre Geschichte von jemandem erzählt wird, der dazu kein Recht hat.

Dem steht allerdings entgegen, dass der Verlauf der Story anders ist als der zwischen Nowicki und Charles: Die Story beendet die Beziehung in dem Moment, in dem sich Robert entkleidet. Margot schläft zwar noch mit ihm, was offensichtlich nicht genussvoll ist. Sie macht das trotzdem, unter anderem weil der Aufwand, sich jetzt noch aus der Sache rauszureden, größer wäre, als sie durchzuziehen (wie im Text zu lesen ist). Aber danach ist Schluss, alles was dann noch folgt, sind Abschlussgefechte, in denen sich beide keine Lorbeeren verdienen, aber das kann man auch lesen wie man will. Die Schlussstexte von Robert, die Margot nicht mehr beantwortet, zeigen ihn jedenfalls von einer ziemlich miesen Seite. Die Story endet in einer wüsten Beschimpfung Margots durch Robert als Hure, während sich Kirsten und Charles erst nach einiger Zeit trennen und noch bis zu seinem Tod Kontakt hatten. Was unter bösen Freundinnen und Freunden zu der Frage führt, weshalb nicht Margot bei Robert, sondern Kristen so lange bei Charles geblieben ist. Der denkwürdige Subtext bei Nowicki ist denn auch. Nebenbei bemerkt, das permanente Misstrauen in das Verhältnis der jungen Frau zum älteren Mann, das ja auch wenigstens der Anreger für Roupenians Story war. Ein solches Verhältnis ist verdächtig, bietet Gegenstand für Vermutungen und hat im Kontext der Missbrauchsvorwürfe in hierarchischen Gefällen wenigstens einen bedrohlichen Unterton. Aber was das angeht, sind wir dann in der wirklichen Welt und ihren Auszeichnungen angelangt.

Im Grundsatz  aber und jenseits davon, dass wir alle unzuverlässige Erzähler sind, wie ja auch Nowicki weiß, liegen die Unterschiede zwischen der „realen“ Geschichte Nowickis und der Story Roupenians vor allem darin, dass das eine eine Erinnerung transformiert in einen biografischen Text, das andere aber eine Kurzgeschichte ist, also Erzählungen, die unterschiedliche Positionen in der Lebenswelt haben. Selbst also wenn die eine, die fiktionale Erzählung, die andere, die biografische zur Grundlage nimmt, macht sie doch was anderes draus. Nowickis Erzählung zielt auf etwas anderes ab als die Roupenians. Aber darüber hinaus: So wie beide jetzt vorliegen, ist Nowickis Erzählung vor allem ein Kommentar zu der Roupenians, der vor allem moniert, die wahr Geschichte falsch erzählt zu haben, was immer das sein soll.


Wann hört Demokratie auf?

Milo Rau beklagt in der TAZ den Verrat der Grünen

6. Oktober 2021

Das Verhältnis politischer Bewegungen zur Demokratie ist immer dann auf die Probe gestellt, wenn sie bei Wahlen – gegen jede Erwartung – nicht erfolgreich genug sind, soll heißen zu stärksten Kraft herangewachsen sind, die alle anderen verdrängen und zur Bedeutungslosigkeit verurteilen können. Das zeigt sich zuletzt in einem Essay Milo Raus in der TAZ vom 5. Oktober 2021, in der er das Ergebnis der Bundestagswahl nicht zum Anlass nimmt, darüber nachzudenken, wie denn eine ökologische Partei bei Wahlen erfolgreicher werden kann, sondern – angesichts der als aussichtslos und tödlich ausgezeichneten Situation – Taten von den „Aktivist*innen Europas“ fordert. Die Grünen schreibt er ab, weil sie sich zu Vorgesprächen zu Koalitionsverhandlungen entschieden haben. Das Selfie der Grünen- und FDP-Verhandlungsführer aus der Sondierung kanzelt er als „Verrat“ ab. Die Wahl wird als „Move der Mächtigen“, der dem Machterhalt dient, und zugleich als politische Verdrängungsleistung“ diskreditiert.

Als Resultat der Wahl sieht Rau eine Bestätigung des Status Quo, mithin eine Zuspitzung der ökologischen Krise, die zum Handeln zwingt, weil die Alternative der Untergang zumindest der ärmeren Teile der Menschheit wäre: „Die Lage ist nicht ‚spannend‘, also dramatisch, sondern ausweglos, also tragisch.“

Damit trägt Rau eine alte Dichotomie politische Handelns weiter fort, in der Wahlen, also das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung, und politischen Handeln, also das interessegeleitete Aushandeln von Handlungsmöglichkeiten und deren Umsetzung, schlicht suspendiert werden. An deren Stelle wird die Eindeutigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, an der keine Abstriche zulässig sind, und die Notwendigkeit gesetzt, die politische Klasse, die Mächtigen („das System“) zu beseitigen, für die der Machterhalt im Vordergrund steht.

Was in Raus Essay fehlt ist die Konsequenz seiner Suspendierung von Politik und Wahl – nämlich eine ökologisch grundierte Diktatur, die einzig als handlungsfähig angesehen wird. Der Hebel zu deren Umsetzung ist der politische Massenprotest. Die Handlungsbevollmächtigten eines solchen Systems werden aus aus der Massenbewegung heraus rekrutiert und womöglich auch durch sie legitimiert. Abweichende Positionen werden nicht berücksichtigt oder im Laufe des Prozesses bereinigt. Was weitere Konsequenzen fordert, in deren Zentrum die unbedingte Handlungsfähigkeit des Systems steht.

Keine Frage, dass politische Massenproteste im demokratischen System ihren legitimen Ort haben. Aber ebenso wenig ist fraglich, dass die Umsetzung politischer Ziele, zu denen der ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft gehören, ein langwieriger und schwieriger Prozess ist, der mit vielen, eben auch widerstreitenden Interessen rechnen muss. Bequemlichkeit ist da nicht gefragt, und dazu gehört die vollmundige Diskreditierung von Politik und Wahlergebnissen ebenso wie die Fokussierung auf die demonstrierenden Massen als entscheidender Faktor. Die Mühen beginnen immer erst, und Unbedingtheit weder ein guter Ratgeber noch ein praktikables Handlungsprinzip.


Angst vom Schwarzen Mann?

6. August 2021

In der TAZ vom 4. August 2021 listet Renate Kraft eine Reihe von Texten auf, die sich mit der Kolonialherrschaft in der Karibik beschäftigen. Literatur sei hier „Zeugnis der Verdrängung zum Beispiel von der Grausamkeit der Kolonialherrschaft“ (Renate Kraft: Bilder von Zuckerinseln, in TAZ v. 4.8.2021). Unter den Texten, die sie vorstellt, ist Heinrich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ aus dem Jahr 1814. Eine der zentralen Figuren ist der ehemalige Sklave Congo Hoango, der sich trotz der privilegierten Behandlung durch seinen zeitweiligen Herrn gleich zu Anfang des Aufstands in der Kolonie gegen die Kolonialmacht stellt und deren Repräsentanten, seinen vormaligen Herrn als allererstes, umbringt. Congo Hoango wird als grausamer, gewalttätiger scharzer Mann eingeführt, bleibt in der Folge aber weitgehend im Hintergrund, als stete Drohung, die jederzeit zurückkehren kann, um jeden Weißen, der ihm in die Fänge gerät, umzubringen. Die Geschichte, die Kleist erzählen will, beginnt damit, dass die Tocher seiner Gefährtin Babekan in Liebe zu einem Schweizer, mithin weißen Flüchtling fällt, der an die Hintertür des ehemaligen Gutshauses klopft, in dem Congo Hoango nun lebt, und um Schutz für sich und seinen Tross bittet.

Congo Hoango ist außer Haus, die zurückgebliebene Babekan geht zum Schein auf die Bitte Schutzsuchenden ein, versucht die verhassten Weißen aber solange hinzuhalten, bis Congo Hoango zurück ist. Ihre Tochter Toni, eine Mestizin, von ungeheurer Schönheit, dient dazu als Lockvogel. Aber wie es die Geschichte will, Toni und der Schweizer, ein gewisser Gustav von der Ried, fallen in Liebe zueinander. Zur Unzeit, Hoango kehrt zurück, die Situation eskaliert. Tonis Versuch, den Geliebten und seine Verwandten zu retten, scheitert tragisch, soll heißen, der liebende Mann tötet seine Geliebte, weil er sich verraten fühlt, als er erkennt, dass er geirrt hat, tötet er sich selbst. Die verbliebenen Schweizer Flüchtlingen kommen ungeschoren davon.

Der Text ist – wie stets bei Kleist – irritierend, die Einführung Congo Hoangos ist extrem. Zutreffend ist auch, dass Kleist als Erzähler, mitteilt dass die Geschichte aus einer Zeit stamme, in der „die Schwarzen die Weißen ermordeten“. Womit er – aus Sicht von Renate Kraft – das rassistische Muster bedient, denn er verschweige, dass „im Verlauf von Revolution und Befreiungskrieg (anzunehmen ist, dass der Befreiungskrieg des späteren Haiti gemeint ist) etwa zweieinhalbmal soviele Schwarze umkamen wie Weiße“. Außerdem habe Kleist mit der Figur des Congo Hoango „das Schreckensbild vom bösen schwarzen Mann mitverbreitet – eine paranoide Vorstellung, die aus der Weigerung der Europäer entstand, die eigene koloniale Gewalt anzuerkennen“.

Nun kann man literarischen Texten wohl entnehmen, was einem beliebt, dennoch darf behauptet werden, dass diese Interpretation Krafts am Text Kleists vorbeigeht. Das beginnt beim einführenden Satz der Erzählung, in dem schon alle Themen untergebracht sind, die Kraft stören: “ Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger namens Congo Hoango.“

Damit hat es sich schon aber auch schon fast; sicher der Hinterhalt für fliehende Weiße wird geschildert, Gustav von der Ried gerät hinein, die Rückkehr Congo Hoangos, oder des „Negers Hoango“ wird jederzeit erwartet, er kommt auch früher heim als angekündigt, aber von seiner Urgewalt ist wenig im Text zu spüren. Ganz im Gegenteil, er muss sich der List Tonis und der anderen Schweizer fügen und sie ziehen lassen. Was offensichtlich gegen den Anfang des Textes gesetzt ist.

Aber die Erzählung interessiert Kraft ja nicht, sondern lediglich der „falsche“ Satz zu Beginn und das negative Bild des schwarzen Mannes. Statt das Konzept des Textes zu beschreiben und daraus zu bestimmen, wie zum einen der Satz des Erzählers begründet und zum anderen die Anlage der Figur Congo Hoango angelegt ist, beschränkt sich Kraft also auf eine Art Musterdropping: Der Satz über das Töten von Weißen wird nicht als Verweis auf die Umkehrung der Verhältnisse gesehen, sondern als falsifizierbare Tatsachenbehauptung, die die Verantwortung von Weißen mindern soll. Ähnliches geschieht mit der Figur Congo Hoangos, der eben als Personifzierung des wilden, grausamen, schwarzen Mannes von allen sonstigen Bedeutungen für den Text abstrahiert wird. Dass er für die gewaltsame, ja grausame und konsequente revolutionäre Befreiungstat stehten mag, die von einer Instanz verkörpert wird, die in der konventionellen Gesellschaftsstruktur der Zeit, eben als Sklave, ganz unten steht, bleibt außen vor.

Bliebe man also bei Krafts knapper Deutung, hätte Kleist nicht schreiben dürfen, das Schwarze Weiße töten, weil er damit verdeckt, dass mehr Schwarze als Weiße in den damaligen Auseinandersetzungen umgebracht worden sind. Und er hätte Congo Hoango nicht grausam und verschlagen agieren lassen dürfen, weil er damit das Schreckensbild des Schwarzen Mannes mit verbreitet hat.

Hätte Kleist aber auf beides verzichtet, hätte er – konsequent – diese Erzählung nicht schreiben können und dürfen. Ein Text weniger, der Unrecht für Recht ausgibt, wäre also in der Welt.

Oder die Irritation, die sich bei der Lektüre des Textes einstellen kann, wird als das genommen, was sie wohl sein soll: der Versuch, das wohlfeile Einverständnis mit der Welt, wie sie ist, zu erschüttern einerseits, und andererseits die Legitimität der aufständischen Gewalt (in Kleists Fall eigentlich gegen die napoleonische Fremdherrschaft) drastisch zu feiern. Das eine mag uns wohl bis heute gefallen, das zweite angesichts des zweifelhaften Charakters der antinapoleonischen Front nicht wirklich freuen. Und schließlich, alle Schrecklichkeit nützt weder den Schwarzen noch dem schwarzen Mann, wenn ihre Feinde schließlich davon kommen.


Doppelte Agenda beim Ehegattensplitting?

11. Juni 2021

Die FAZ hat Nicola Fuchs-Schündeln und Michèle Tertilt, Ökonominnen der Universitäten Mannheim und Frankfurt/Main, am  Montag, den 7. Juni 2021, eine Seite eingeräumt, um für die Umstellung von Ehegattensplitting auf Einzelversteuerung zu argumentieren. Da es beim Geld immer ums Geld geht, bieten sie auch Zahlen, also in etwa so:

Wenn die Ehefrau eines Mannes, der ein Jahreseinkommen von 50 TEuro verdient (gemeint ist das zu versteuernde Einkommen, nicht das Bruttogehalt), überlegt arbeiten zu gehen und zwar für ein Jahreseinkommen (auch hier nicht das Bruttojahresgehalt) von 20 TEuro, dann bleiben der Frau von diesen 20 TEuro etwa 14 TEuro, sagen Nicola Fuchs-Schündeln und Michèle Tertilt. Würde sie individuell, also nur für sich versteuert, blieben ihr 18 TEuro. Die Frau hätte also in der Einzelversteuerung 4 TEuro mehr zur Verfügung. Wenn das Referat falsch sein sollte, geht das zu Lasten des Verfassers.

Das Ergebnis ist also, so schnell wie möglich in die Einzelversteuerung. Und die Frage ist: Weshalb gibt es das Ehegattensplitting dann überhaupt? Um Paare in konventionelle Verhältnisse zu zwingen? Mann geht arbeiten, Frau betreut Kinder? Aber rechnen können beide nicht? Das klingt erstmal merkwürdig. Aber das kann man ja kontrollieren.

Prüft man diese Zahlen nach, dann kommt man auf folgende Ergebnisse, die im wesentlichen das Rechenexempel der beiden Autorinnen bestätigen – mit einer folgenschweren Ausnahme, bei der nicht zu erkennen ist, ob dabei ein Rechenfehler oder eine verborgene Agenda die Ursache ist.  Und auch hier ist (erneut) zu berücksichtigen, dass hier nicht Lohnsteuer, sondern Einkommenssteuer berechnet wird, also das, was am Jahresende bei der Steuerklärung des Paares berücksichtigt wird.

Betrachten wir die Einzelveranlagung, also jeder Steuerpflichtige wird getrennt besteuert:

  • Die Steuerlast für denjenigen, der 50 TEuro zu versteuerndes Jahreseinkommen hat, liegt nach der sogenannten Grundtabelle für 2021 bei knapp 12 TEuro, bei dem, der nur 20 TEuro versteuern muss, sind das knapp 2,27 TEuro, insgesamt 14,2 TEuro. Bleiben also von den 70 TEuro ca. 55,8 TEuro (von denen noch andere Lasten abgehen wie Sozialabgaben, aber die ignorieren wir vorerst).
  • Die Steuerlast eines gemeinsam veranlagten Paars mit einem gemeinsamen Einkommen von 70 TEuro liegt nach der Splittingtabelle, mit der die gemeinsame Veranlagung abgebildet wird, bei rund 13,3 TEuro, bleiben also knapp 56,7 TEuro.
  • Den gemeinsam veranlagten Eheleuten stehen nach dieser Berechnung ca. 1 TEuro mehr zur Verfügung, als wenn sie getrennt veranlagt würden. Das ist nicht die Welt, aber haben ist besser als nicht haben.
  • An der Beschreibung der beiden FAZ-Autorinnen stimmt also, dass das Zusatzeinkommen von 20 TEuro bei der gemeinsamen Veranlagung fast so hoch besteuert (mit 6.068 Euro) wird wie das Einkommen von 50 TEuro: Darauf werden nämlich 7.252 Euro fällig. Das ist hässlich, aber eben ein Effekt des deutschen Steuersystem, das höhere Einkommen quotal höher besteuert. Ob jemand das für gerecht oder ungerecht hält, kommt auf den Standpunkt. Für die höhere Besteuerung sprechen nicht zuletzt soziale Argumente, nach denen jenen, die leistungsfähiger sind, höhere Lasten abverlangt werden können. Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von ca. 100 TEuro addiertes Einkommen ist übrigens der Vorteil des Ehegattensplittings aufgebraucht. Ab da stehen sich gemeinsam und getrennt Veranlagte gleich. Auch da irren sich die beiden FAZ-Autorinnen, der Vorteil des Splittings ist irgendwann mal aufgebraucht. Das liegt daran, dass die gemeinsam genutzten Freibeträge irgendwann dann doch mal genutzt sind.
  • Zumindest die Aussage, die Frau hätte bei einer Einzelversteuerung auf ihr Einkommen mit nur ca. 2 TEuro Steuer ca. 4 TEuro mehr zur Verfügung ist irreführend. Das stimmt nämlich nur dann, wenn die höhere Versteuerung des Mannes bei der Einzelveranlagung aus dem Blick gerät; die steigt nämlich in diesem Fall auf knapp 12 TEuro.

Das Ergebnis spricht also für die wirtschaftlichen Vorteile der gemeinsam Veranlagung. Das sollten auch beiden Ökonominnen wissen (was zu unterstellen ist), aber sie lassen es nicht in ihre Darstellung einfließen. Nur im Nachgang wird erkennbar, dass sie um die Schräglage ihrer Argumentation wissen: Immerhin erwähnen sie, dass die Aufgabe des Ehegattensplitting den Steuerbehörden pro Jahr 26 Milliarden Euro einbringen würde, was wohl auch daran hängt, dass dann die wirtschaftlichen Vorteile des Ehegattensplittings aufgegeben würden. Auch die Mehrbelastungen für viele Ehepaare bei einer Aufgabe der gemeinsamen Veranlagung, die die beiden Autorinnen später erwähnen, erklären sich aus ihrem kleinen Exempel nicht. Das lässt vermuten, dass das Ehegattensplitting nur der Hebel ist, mit dem andere Ziele erreicht werden sollen: zum Beispiel mehr Frauen in die Arbeit zu bringen, das Stundenkontingent zu erhöhen, die Selbständigkeit und damit Verfügungsgewalt über Ressourcen zu verbessern, die Karrieren von Frauen zu fördern.

Dem steht aber weniger das Ehegattensplitting im Weg, sondern behindert wird das durch die hohen Kosten der Arbeit, egal wie mans dreht oder wendet: Denn nicht einmal das Einkommen nach Steuern steht der Familie, dem Paar oder den Einzelnen vollständig zur Verfügung, es gehen noch Sozialabgaben, also Krankenkasse, die ja erst für die beruflich Tätige anfällt, Arbeitslosengeld und Rentenbeiträge ab; grob gerechnet bleiben also von 1.000 Euro Einkommen am Ende nur 550 bis 600 Euro, Tendenz mit dem Einkommen steigend.

Dass vom Zusatzgehalt des/der geringer Verdienenden viel Geld in die Steuer und die Sozialabgaben fließt, ist also ein Problem, das in jedem Fall auftaucht, sobald es einen Zusatzverdienst geben soll.

Mit einer Ausnahme: Der Minijob, bei dem bis zu 450 Euro / Monat, mithin 5,4 TEuro / Jahr ohne Sozialabgaben und Steuern dazuverdient werden können. Mit ihm werden, und das sehen wohl auch Fuchs-Schündeln und Tertlit so, zu versteuernde Einkommen bis gut 10 TEuro brutto / Jahr kannibalisiert (etwas mehr, wenn vom Bruttolohn die Rede ist). Kommen Mehraufwendungen hinzu, weil für die Erwerbstätigkeit des/der geringer Verdienenden z.B. Kinder in eine bezahlte Betreuung müssen, hohe Fahrtkosten anfallen etc., dann schmälerte das den Vorteil weiter und steigert den Grenzwert, ab der sich Mehrarbeit lohnt, schnell um einige tausend Euro. Die geringfügige Beschäftigung bekommen Eltern oder Alleinerziehende normalerweise in den Kitazeiten oder anders kostenneutral geregelt. Aber das (vorerst) nur nebenbei und auch nur frech behauptet. Mit anderen Worten, Zusatzeinkommen sind – außer wenn sie klein sind und als Minijob machbar sind – immer aufwendig und sind mit Kosten verbunden.

Die Diskussion um das Ehegattensplitting im Vergleich zur Einzelversteuerung verdeckt aber das anscheinend eigentliche Ziel der Diskussion, die wirtschaftliche Selbständigkeit von Frauen und in diesem Zug die Erhöhung der Arbeitszeiten. Gegen eine stärkere Beteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt und auf den Karriereschienen ist nichts zu sagen, aber der Weg, der hier eingeschlagen wird, ist bedenklich und macht misstrauisch: Er geht über die Erhöhung des Drucks zum Zusatzeinkommen. Indem die wirtschaftlichen Vorteile des Ehegattensplittings einem konservativen Geschlechterkonzept zugewiesen werden (was eben so nicht stimmt, weil es ja Zweiteinkommen vergleichsweise attraktiv macht), wird es delegitimiert. Um die Kosten seiner Abschaffung zu kompensieren, müssten Frauen insbesondere ihre Arbeitszeiten erhöhen, fielen die Minijobs weg, die Fuchs-Schündeln und Tertlit ausdrücklich noch in den Blick nehmen, sogar drastisch.

Die höhere wirtschaftliche Selbständigkeit von geringer Verdienenden, was je meist Frauen sind, wäre ein hohes Gut, aber die Kosten, die damit verbunden sind, sind bislang nicht einmal ansatzweise betrachtet, und eben auch nicht die Maßnahmen, die helfen könnten, die Erwerbsarbeit attraktiver und leichter zu machen. Neben den Belastungen des Arbeitslebens sind insbesondere dann, wenn Kinder mit ins Spiel kommen – ehelich oder nicht – die Rahmenbedingungen grundsätzlich anders zu gestalten, etwa durch kostenlose und umfangreiche Kinderbetreuungsangebote, durch Fort- und Weiterbildungsangebote, die auch bei unterbrochenen Arbeitsbiografien effektive Unterstützung leisten wüwrden, auch Elternzeitangebote, kombiniert mit einem umfangreiche Kündigungsschutz für Arbeitnehmer. Auch eine massive Änderung von Haltungen in den Betrieben und im Umfeld sind notwendig – die Berichte aus Firmen, in denen Schwangerschaft, Elternzeit und anderes mehr massiv attackiert werden, sind erschreckend. Solche Haltungen und solche Misstände müssten vorrangig angegangen werden, wenn es eine politisch nachhaltige und wirtschaftlich für Paare wie für die Einzelnen vertretbare Entwicklung geben soll.

Ein letztes noch zum Werteargument, das auch Nicola Fuchs-Schündeln und Michèle Tertilt vortragen, die Förderung traditionelle Paarkonzepte durch das Ehegattensplitting: Dass vom Ehegattensplitting insbesondere Familien mit einem traditionellen Rollenmodell profitieren, ist vor allem deshalb nicht plausibel, weil in einem solchen Modell die Frauen nicht arbeiten, sondern sich um Kinder und Haushalt kümmern. Es sei denn, die Verfasserinnen meinen mit „traditionell“ etwas anderes. Aber selbst dann stehen sich die Leute besser mit als ohne das Ehegattensplitting, zumindest bei Einkommen im mittleren Bereich.

Anders hingegen wenn der Blick auf die Problematik geändert wird: Grundsätzlich liegt das Problem in allen Erwerbsstrukturen vor allem bei der Verfügungsgewalt über die Einkommen. Liegt die – warum auch immer – beim Mann, nützen auch die höchsten Einkommen der Frau nichts. Grundlage einer gerechten Verteilung der Ressourcen und der Verfügungsgewalt über sie ist dann tatsächlich das Selbstverständnis der Beteiligten und das Geschlechtermodell, das sie leben. Wie das anzugreifen ist, darüber gibt der Artikel nur eine indirekte Antwort.

Wenn man die Argumentation ernst nimmt, dann beruht das Geschäftsmodell bei der Abschaffung des Ehegattensplittings aber eben auf einigen statistischen Erfahrungswerten und den darauf aufbauenden Erwartungen, nämlich darauf, dass mehr Teilhabe am Erwerbsleben die Selbstermächtigungskräfte der Frauen stärkt und ihre Emanzipation befördert.

Die Argumentation von Fuchs-Schündeln und Tertilt läuft aber noch nicht einmal zentral auf die Selbstermächtigung von Frauen hinaus, die mit mehr verfügbarem eigenem Einkommen auch Bewegungsspielraum bekämen (was nicht abzustreiten ist). Es geht auch nicht darum, auf eine sich ändernde soziale Wirklichkeit zu reagieren, also auf den Niedergang der Ehe durch die Konkurrenz mit nichtehelichen Partnerschaften, die steigende Zahl von Kindern, die nicht ehelich geboren werden und aufwachsen und dergleichen mehr, bis hinzu Patchworkfamilien, mit und ohne Trauschein. Wenn es darum ginge, müssten sich die Verfasserinnen Gedanken dazu machen, wie solche, sagen unnormierten Fälle adäquat aufgefangen und deren Nachteile kompensiert würden. Statt dessen schlagen sie faktisch vor, alle gleich schlecht zu stellen.

Zudem begründen sie ihre Argumentation gegen die gemeinsame Veranlagung auf eine gesamtwirtschaftliche Situation, in der es sträflich wäre, Arbeitspotential ungenutzt zu lassen, zum einen, weil Arbeitskräfte in der alternden Gesellschaft dringend benötigt werden, und zum anderen, weil aus dem vermehrten Einkommen auch sehr starke Wachstumsimpulse generiert würden. Wenn daran aber etwas geändert werden soll, dann müssten die Kosten der Arbeit drastisch gesenkt werden, was aber deutlich zu Lasten des Sozialsystems und der staatlichen Einnahmen gehen würde: keine eigene Krankenversicherung mehr, keine Arbeitslosenversicherung, keine Rentenversicherung – und eben weniger Steuern.