Über die Haltbarkeit der deutsch-finnischen Freundschaft

17. August 2020

In der FAZ vom 14. August 2020 warnt der in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, geborene Komponist, Lyriker und Essayist Jüri Reinvere vor dem Desinteresse der Europäer, ja der EU-Nationen aneinander. Jede Nation sei nur an sich selbst interessiert und versuche Vorteile, wenn nötig auf Kosten der anderen zu generieren. Der Frieden auf dem europäischen Kontinent sei eine Fassade. Wer dahinter schaue, sehe das alte Europa der Eifersucht, das Reinvere als unverwüstlich vital kennzeichnet.

Nun könnte man erwarten, dass Reinvere nach einem solchen Auftakt reihenweise Beispiele aus dem endlosen Geschacher der EU-Regierungen aufliste, begonnen bei den Sonderreglungen für die Briten (die ja nun ein Ende gefunden haben), über die Verteilregeln bei der Aufnahme von Flüchtlingsströmen bis hin zu den Klimaschutz-Vereinbarungen. Beispiele ließen sich sicher viele finden, wenn denn politische Auseinandersetzungen in einem derart komplexen Gebilde wie der EU mit dieser Perspektive betrachtet werden sollen.

Aber nichts davon. Reinvere bringt vor allem Beispiele aus dem Alltagsleben, vor allem vom alltäglichen Handeln und Denken und vor allem aus Estland, Finnland und Polen. Ein bisschen England und Deutschland kommt noch hinzu. Aber mehr auch nicht.

Was seine Beispiele sind? Der Reihe nach:

  • Als Reinvere 1989 – wohlgemerkt noch in den UdSSR-Zeiten und lange vor der EU-Mitgliedschaft der baltische Staaten – nach Polen gehen will, warnt ihn eine litauische Freundin vor den Polen, die alles Lügner und Verräter seien. Das ist seine Auftaktgeschichte.
  • 2020, also 30 Jahre später, erzählt ihm eine estnische Freundin, dass sie in Finnland keine feste Stelle als Organistin bekommen könne, weil sie Estin sei und keine Finnin.
  • Reinvere bestätigt diese Erzählung mit eigenen Erfahrungen aus sieben Jahren als Organnist in Finnland (von insgesamt 13 Jahren), in denen ihm immer wieder finnische Organisten, die deutlich schlechtere Musiker gewesen seien, vorgzogen worden seien. Er sei dann immer Ersatz gewesen, habe die anspruchsvolleren Sachen spielen müssen und dafür auch noch weniger Geld bekommen.
  • Ihm sei zudem aufgrund seines estnischen Akzents verboten worden, im finnischen Radio zu sprechen.
  • Allerdings gebe es solche Vorbehalte auch anderherum, nutzten die Esten die Finnen als Touristen, von denen sie kein sehr repsektvolles Bild hätten, doch zynisch aus. Was wohl zeitlich nicht besonders eingegrenzt werden soll.
  • In Frankfurt (Main, ist anzunehmen) habe er die russische Mitarbeiterin einer Buchhandlung sagen hören, dass die Balten „Verbrecher an der großen russischen Nation“ seien.
  • In Polen (anscheinend vor 30 Jahren, was allerdings nicht erwähnt wird) habe er seinen Professor sagen hören, dass der damalige litauische Präsident nie den Friedensnobelpreis bekommen werde, weil die „weltweit vernetzten litauischen Juden“ das verhindern würden.
  • In Deutschland (anscheinend wieder halbwegs in der Gegenwart) habe ein deutscher Vermieter, der ihn irrtümlich für einen Fnnen gehalten habe (aufgrund seines Passes), an die deutsch-finnische Freundschaft im 2. WK erinnert. Der Mann war entweder sehr alt oder ein Neofaschist.
  • Englische Freunde von Freunden hätten ihn im Pub (wann war das?) damit begrüßt, dass ja wohl alle Balten Russkies und Prostituierte seien. Was die Frage erlaubt, welche Erfahrungen diese Engländer mit Balten hatten oder über die Wirkung von Alkohol spekulieren lässt.
  • Als er in Finnland Freunde darauf aufmerksam gemacht habe (vor 2005), dass „viele finnische Männer estnische Frauen“ belästigten, sei das damit abgewiesen worden, dass Finnen keine Rassisten seien. Was wohl heißen soll, dass sie die Frauen als Männer und nicht als Finnen belästigt hätten und ihnen die Nationalität der Frauen egal war?
  • Antisemitismus im Vokabular in Estland sei den meisten nicht bewusst.
  • Die Täterrolle ihrer Länder im 2. WK und bei der Judenvernichtung hätten selbst lettische und litauische Intellektuelle nicht anerkannt.

Das Ganze wird an zwei Stellen als „Rassismus“ gekennzeichnet, was eine zumindest fragwürdige Bezeichnung ist, die für Unterschiede zwischen Finnen und Esten nicht wirklich passt. Finnische Rasse? „Nationale Ressentiments“ wäre vielleicht treffender, der Vergleich mit der „Black Lives Matters“-Bewegung hinkt nicht nur ein bisschen, auch wenn man Vorurteilsmuster nicht unterschätzen darf.

Nach dieser Liste von zeitlich weit auseinanderliegenden Erinnerungen, die zudem in weit divergierende Situationen gehören und zudem kategorial deutlich differenzierten Ereignisgruppen angehören, folgt ein überraschendes Resümee:

  • Die großen Nationen der EU seien an den Verwerfungen in Osteuropa nicht interessiert.
  • Bevölkerungen abseits der Ballungszentren seien an der EU nicht interessiert, sie sei ihnen aufgezwungen worden.
  • Das geeinte Europa sei der Traum urbaner und technikaffiner Wirtschaftseliten.

Was, genau betrachten, mit den Exempeln, die er nur so sprudeln lassen könne, nicht belegen lässt.

  • Die gegenseitigen Ressentiments russischer, baltischer, polnischer und finnischer Leute gehen auf einen lange zurückreichenden Erfahrungsraum, der eben symbolisch höchst aufgeladen ist und dessen Abrüstung wohl noch dauern wird. Was die Russen an dieser Stelle zu suchen haben, erschließt sich nicht.
  • Das dusselige Kneipen-Gerede von Engländern ebenso wie die peinliche Verbrüderung des deutschen Vermieters in Frankfurt ist wohl kaum als Beleg für die Europa-Abneigung der Bevölkerung peripherer Räume anzusehen.
  • Es ist zudem zu bezweifeln, dass es ein „über Jahrzehnte angesammelte(s) alltägliches Desinteresse der EU-Nationen aneinander“ gibt – und in jedem Fall kann man ein solches Desinteresse aus den Belegen nicht ableiten.

Soll am Ende heißen, dass Reinvere anscheinend das Gefühl hat, dass das mit dem Europa nicht so läuft, wie man sich das vorstellt, freundlich, friedlich, mit gegenseitiger Anerkennung, und außerdem hat er da ein paar Erinnerungen, die sich bei dieser Gelegenheit gleich mitabladen lassen und von denen er behauptet, sie stützten sein Unwohlsein.

Nur dass das, was er als Bericht und Argumentation liefert, dieses komische Gefühl nicht untermauert. Denn zum einen liegen die Beispiele zeitlich, kategorial und kontextuell zu weit auseinander. Was haben die Einstellungsusancen in Finnland mit den Belästigungen von etnischen Frauen und der Verweigerung von Intellektuellen zu tun, auch wahrzuhaben, dass ihr Land sich im 2. WK eben auch auf der Täterseite befunden hat? Erst mal wenig, und es wird nicht mehr, wenn mans in einen Topfen wirft und kräftig rührt.

Zum anderen kann und sollte man Alltagsakteure nicht mit Nationen identifizieren. Das Handeln der deutschen Regierung auf europäischer Ebene bekommt man mit dem revisionistischen Geschichtsbild eines anscheinend rechtsextremen Vermieters in Frankfurt nicht wirklich verbunden.

Recht geben kann man Reinvere darin, dass das europäische Projekt – so fehlerhaft auch ist – zwar immer noch einen hohen Wert hat, aber politisch derzeit gefährdet ist. Dass es dem europäischen Raum – bis auf die fatalen Balkan-Kriege – einen bis dahin nie dagewesenen, über Jahrzehnte haltenden Frieden ermöglicht hat, kann man allerdings deutlich stärker herausstellen, als er es hier tut. Nur verstellen vielleicht wirtschaftliche Interessen und politische Altlasten gelegentlich den Blick.