Re-Moralisierung der Kunstkritik?

26. September 2010

In der FAZ vom 24.9. bespricht Swantje Kranich zwei Ausstellungen des Frankfurter Museums für Moderne Kunst. In der einen werden die Bestände der Fotografie-Sammlung gezeigt, die andere widmet sich dem Verhältnis von Fotografie und Mode in den 1990ern.

Erstaunlich an dem Text ist seine Fixierung auf die angeblichen oder tatsächlichen pornografischen Exempel der Bestands-Ausstellung, auf Arbeiten von Jock Sturges und Nobuyoshi Araki. Der erstere mit Fotografien von nackten, teils erotisch posierenden Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, der andere mit Bondage-Inszenierungen. Pornografie ist das Etikett.

Keine Frage, beide Motivarsenale sind sexuell, vielleicht sogar pornografisch ausgezeichnet. Karich reagiert offensichtlich darauf mit Abscheu („schwer erträglich“ im Falle Sturges‘, lediglich „interessant“ im Falle Arakis). Das kann man verstehen (und wer als Intention solcher Fotos die Präsentation natürlicher Schönheit und Zerbrechlichkeit annimmt, nimmt nur eine andere Umleitung, auch wenns der Fotograf selbst anbietet) – aber merkwürdiger Weise soll das ein Argument der Kritik sein? 

Der Kurator der Bestands-Ausstellung habe, so Karich, passiv reagiert und auf die kritische Kompetenz seiner Besucher verwiesen (was ja auch nur e i n e Möglichkeit ist, mit dem Genre umzugehen). Karich hält das anscheinend für falsch – diese Haltung und die Fokussierung der Ausstellung. Karich plädiert statt dessen für eine andere Ausrichtung, etwa auf realistische Fotografien aus dem Alltag Neapels, wie sie Tobias Tielony vorgelegt habe.

Interessant daran, ist verschiedenes 
– dass soziale Fotografie gegen Aktfotografie aufgestellt wird, 
– dass die Motive oder Inszenierungen die Haltung der Kritik bestimmen
– dass die Provokation durch sexualisierte Motive immer noch funktioniert
– dass dabei die unentschiedene Haltung, die alles erlaubt, aufgegeben wird
– dass Kunst damit aus ihrem Rückzugsraum geholt wird, was ihr vielleicht auch gut tut
– dass die Rezeptionsstränge in zugelassene und unterdrückte differenziert werden.

Das lässt weit reichende Interpretationen zu, insbesondere was die Entwicklung der Wahrnehmungskultur angeht. Zweifelsohne wird mit der Neuordnung von Wahrnehmung zwar Verhalten auf den ersten Blick wieder leichter steuerbar, für die Gesellschaft wie für die Einzelnen. Zugleich werden mit der scharfen Trennung zwischen dem Zugelassenen und Ausgeschlossenen (resp. deren Neujustierung, denn keine Gesellschaft kann alles zulassen) die Probleme der geschlossenen Gesellschaft wieder auftauchen. Und sie werden nicht nur von den Rändern der Gesellschaft her initiiert werden, sondern aus ihr selbst heraus entstehen. 

Moral ist ein wichtiger Leitfaden individuellen und gesellschaftlichen Handelns, sie ist aus dem politischen und auch kulturellen Leben nicht wegzudenken. Aber sie ist ebensowenig sistierbar wie alle anderen sozialen Phänomene.