Lob des Landlebens

2. November 2020

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land gilt derzeit als zerrüttet, mit klarer Rollenverteilung: Das Land muss austragen, was ihm die Stadt eingebrockt hat, und das ist so ziemlich alles zwischen Arbeitsplatzabbau und Pendelstress, zwischen schlechter Infrastruktur und Schredder-Windparks, zwischen Ökoterror und Gendergerechtigkeit – die Liste ist frei fortführbar. Während hie (Land) die Welt noch vor sich hinplätschert, solange es keine Störungen von außen (Stadt) gibt, wird dort so ziemlich alles in Frage gestellt, was bislang als gesichert gelten konnte, das generische Maskulinum, die Grenzen, die Deutsche Mark und vielleicht sogar der deutsche Wald.

Nachdem die vergangenen Monate anscheinend vor allem die Landleute ihr Leid geklagt haben, scheint die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der Meinung gewesen zu sein, man müsse doch auch einmal eine gelungene Stadtfluchtgeschichte bringen, also von einer Familie, die aus der Stadtwohnung auszog, um ins Land einzuziehen und dort sogar zu leben.

Die ist dann just an diesem Sonntag erschienen (Martin Benninghoff: Raus aus der Hamburger Blase, in FAS vom 1.11.2020, S. 12). Erzählt wird von einem Paar mit drei, bald vier Kindern, das aus der dreieinhalb Zimmer Wohnung in Hamburg aufs Land gezogen ist, weil in der Stadt kein bezahlbares Haus mehr zu bauen oder zu kriegen war. Und das, obwohl beide Elternteile berufstätig sind, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni und als Behördenmitarbeiterin. Anscheinend reichen derzeit aber selbst solche Einkommen nicht mehr, um in Hamburg etwas angemessen Großes zu bekommen. Was immerhin bemerkt sein soll.

Angekommen ist die kinderreiche Mittelstandsfamilie in Dithmarschen, also irgendwo zwischen Husum und Hamburg, kurz hinter Wacken, das man aus anderen Zusammenhängen kennt. Glaubt man dem Artikel, dann ist das etwa anderthalb Stunden von Hamburg entfernt.

Vor zwei Jahren sind die Leute dahingezogen, auf einen alten Hof, den sie mit einer zweiten Familie gekauft haben. Und sie haben sich mustergültig integriert. Die Kinder spielen beim Bauer nebenan und der Mann ist bei der Freiwilligen Feuerwehr.

Beide arbeiten zwar noch in Hamburg, aber er muss nur hin und wieder an die Uni („tageweise“) und sie macht das meiste im Homeoffice für die Behörde, sonst fährt sie „einige Tage im Monat“ rüber.

Womit die Bedingungen für die Idylle, die sogar der Autor der Reportage wahrnimmt, genannt sind: Wer aufs Land will, muss sich integrieren wollen und sollte am besten nicht täglich pendeln müssen. Ansonsten könnten sie Belastungen fürs Alltagsleben schon ganz schön anwachsen, sodass für alles andere (für den Schnack zwischendurch, die freiwillige Feuerwehr oder sonstwas, was dazu gehört, damit man sich als Ortsfremder in die Gemeinschaft, die nicht zerfallen soll, integrieren kann) weder Zeit noch Kraft bleiben, zumal bei vier Kindern. Da könnte es schon zu Unmut auf der anderen Seite kommen.

Aber die Stoßrichtung der Reportage ist offensichtlich, dass nämlich die „Stadt nicht zum Feindbild und das Land nicht zum Idyll taugt“, dem zuzustimmen und zu widersprechen ist. Es kommt immer drauf an, wer sich damit abgibt. Immerhin scheint auch den Beteiligten (dem porträtierten Paar und dem Reporter) aufgegangen zu sein, dass die zugewanderten Akademiker in ihrer neuen Heimat (das musste jetzt sein) Exoten sind und bleiben. Aber vielleicht auch was mitbringen, was der ländlichen Idylle von Nutzen sein kann.

Aber darauf kommts es nicht an, denn der Ärger zwischen Stadt und Land entsteht angeblich wegen der massiven Vernachlässigung der Peripherie, kombiniert mit den Zumutungen, denen man sich zur gleichen Zeit ausgesetzt sieht. Allerdings lohnt der zweite Blick und ein bisschen Zurücklehnen vielleicht auch. Beispiel Fahrverbote, die bekanntlich vor allem in der Stadt ausgesprochen werden: Sie als nächste Attacke Stadt gegen Land zu attackieren (weil man dann eben sein Auto am Stadtrand abstellen muss, statt mal schnell reinzuhuschen), ist schon ziemlich motzig (ausgedacht? Nicht die Bohne, siehe die Zeit vom 13. Juni 2019 und die Notes vom 24. Juli desselben Jahres).

Warum das Interesse an den Verwerfungen von Stadt und Land bleibt, lässt sich freilich an derselben Ausgabe der FAS erkennen: Es stammt nämlich aus dem denkwürdigen Erfolg der AfD nicht auf dem Land, sondern an der Peripherie. Aus Frankreich stammt die Behauptung, dass der Erfolg von Le Pen desto größer ist, je mehr ein Ort vom nächsten Bahnhof entfernt ist. Verbockt hats der französische Zentralismus (siehe Notes vom 5. Januar 2019).  

Auch in Deutschland ist diese Überlegung nicht ganz fremd. Zwar gibt es die AfD überall, aber in der Peripherie, nämlich da, wo man von allem ziemlich weit weg ist, wo alle weggehn und nie was passiert, da ist sie anscheinend (oder angeblich) besonders erfolgreich. Und das trotz des deutschen Föderalismus, ders ja nicht einmal schafft, sich auf gemeinsame Corona-Richtlinien zu einigen (zu motzen gibt es  immer was).

Einen Kölner Wirtschaftswissenschaftler, Matthias Diermeier, hat das anscheinend keine Ruhe gelassen, und er hat – gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zufolge, also der FAS – alles was an Statistiken und Datensammlungen zu kriegen war, auf Relationen abgefragt, die den Erfolg der AfD begründen können.

Wenn man dem Artikel (Justus Bender: Bahnhöfe sind keine Lösung, in: FAS vom 1.11.2020, S: 6) glauben darf, dann gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg der rechtpopulistischen AfD und dem Gefühlt, der Staat kümmere sich nicht ausreichend.

Aber anscheinend gibt es keine statistische Beziehung zwischen der Entfernung zum nächstgelegenen Bahnhof und den Wahlerfolgen der AfD, bei Krankenhäusern ist das anscheinend aber anders. Auch erstarkt die AfD, wenn die Abwanderung in einem Gebiet steigt. Das liegt aber nicht an den Alten, die zurückgeblieben sind. Denn „je mehr Alte im Ort, umso schwächer die AfD“, aha. AfD-Wähler seien, gegen die vielleicht naheliegende Vermutung, statistisch gesehen absoluter Durchschnitt, also völlig unscheinbar. Auch die Größe der Ortschaften sei, so der Bericht, relevant, wobei möglicherweise (also eine Vermutung) die Erwartungen an die Ortsgröße eine Rolle spiele: In kleinen Orten unter 5000 Einwohnern erwarte niemand anscheinend eine ausgebaute Infrastruktur etc., also alles, was zur sogenannten Daseinsvorsorge gehört, in größeren Orten aber schon. Dumm, wenn davon dann zu wenig vorhanden ist: Arbeitsplätze mit Zukunft, gutes Straßennetz, schnelles Internet, Läden zum einkaufen und alles was dazugehört. Dann steigt die Zustimmung zur AfD. Frische Luft ist da wohl nicht so wichtig, aber das Verhältnis zur Gesellschaft und zu dem, was sie für einen tun soll.

Alles nicht so einfach? Angesichts dessen, dass Statistiken und Datensammlungen für solche Auswertungen einfach nicht genau genug sind, ist das ein angemessenes Ergebnis.

Zu guter Letzt aber liefert der FAS-Artikel doch noch eine Leitlinie, an die sich auch Politik halten kann: Überall da, wo es eine hohe Arbeitslosigkeit, eine niedrige Wahlbeteiligung und eine geringe Daseinsvorsorge – also eine hinreichende Versorgungsinfrastruktur – gibt, ist die AfD besonders erfolgreich.

Mit der Auflösung des Stadt-Land-Konflikts durch Zuzug ist also dem Defizit, das zur Wahl einer Partei wie der AfD führen kann, nicht beizukommen.