27. April 2020
In der FAS vom 25. April 2021 findet sich das Interview mit einer Bürgemeisterin aus dem Schwarzwald, Hannelore Reinbold-Mench, über die Reaktionen, die der Zuzug eines Wohnprojektes mit 30 Bewohnern in ihrem Ort auslöste. Und über Zugezogene überhaupt.
Das Interview ist recht unaufgeregt, die kleinen Differenzen, die entstehen, wenn Städter mit ihren Gewohnheiten auf Dorfbewohner stoßen, die andere haben, werden recht ausgewogen angesprochen und abgewogen. Eine solche Begegnung hat für beide Seiten ein paar Anforderungen, die bei hinreichender Toleranz allerdings unproblematisch sein dürften. Naheliegend gehört das Grüßen und gehören die persönlichen Kontakte dazu, wenngleich es in einem Ort mit 4200 Einwohnern (Freiamt in Südbaden) Hierarchien, Grüppchen, Feindschaften und anonyme Freiräume geben wird. Für anderes sind selbst solche Orte schon zu groß. Einrichtungen wie Vereine, Schulen, Kitas oder auch politische Parteien dienen ja gerade dazu, solche sozialen Räume zu strukturieren und händelbar zu machen. Aber sie sind eben auch exklusiv und sie erfassen nicht alle Bewohner. Das allgemeine Grüßen ist mithin kaum mehr Konvention, und soziale Kontakte ergeben sich durch Nachbarschaft, Alltagsbegegnungen oder anderes. Soll heißen, wer Kinder hat, integriert sich notgedrungen, weil allein schon die Kinder diesen Integrationsprozess aktiv vorantreiben.
Aufschlussreich ist allerdings die Überschrift des Textes: „Wer ins Dorf zieht, muss sich anpassen.“ Aufschlussreich vor allem deshalb, weil das Zitat so im Interview nicht vorkommt. Zwar spricht Frau Reinbold-Mench an, dass Zugezogene zu einer „bestehenden Gemeinschaft“ dazustoßen, aber sie schließt daran lediglich die Warnung an, nicht zu erwarten, dass sich eine Dorfgesellschaft so ohne weiteres neuen Ideen von bis dahin Externen öffnet. Auch macht sie darauf aufmerksam, dass Zugezogene vom Dorf keine ruhige Idylle erwarten können. Landwirtschaft als semiindustrielle Produktionsform macht gelegentlich Lärm und stinkt ab und an auch heftig. Wer sich daran nicht gewöhnen kann, ist im Dorf ebenso deplatziert wie ein Stadtbewohner, der in der Nähe einer Einfallstraße, einer Fabrik oder eine Schule wohnt.
Aber Reinbold-Mench nimmt solche Probleme wohl eher gelassen hin. Offensichtlich hat sie eine vergleichsweise differenzierte Haltung zur Landflucht von Städtern und zu den Toleranzleistungen, die daraus für beide Seiten folgen. Eine einseitige Anpassung von Zugezogenen aber spricht sie nicht das Wort (weder in Hochdeutsch noch auf Allemannisch).
Das ist wohl eher die Botschaft der Interviewerin als die der Bürgermeisterin. Und jeder, der Orte wie dieses Freiamt in Südbaden kennt, wird wissen, dass auch da nicht jeder jeden grüßt und eine ganze Menge ohne persönliche Kontakte läuft. Man muss weder in Vereine gehen noch seine Nachbarn mögen. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Die Idee der „Gemeinschaft“, die seit Ferdinand Tönnies durch das deutsche Kulturgut geistert, ist eine hartnäckige Utopie, die leider eben auch ziemlich dunkle Schattenseiten hat. Etwa die, dass sie unerstellt, dass man es nicht erlaubt nicht dazuzugehören. Dieses Privileg hat man eben nur in der verfemten Gesellschaft. Kann sein, dass das Leben auf dem Lande gerade mal wieder Konjunktur hat (nicht zuletzt wegen der steigenden Grundstückspreise allenthalben). Aber das ist ja auch nicht das erste Mal.