Identität statt Praxis?

5. Juni 2019

Die kulturelle Imprägnierung geschlechtspezifischer Muster scheint immer weniger bewusst zu sein, stattdessen werden – merkwürdige Verschiebung – sexuelle Praktiken und Vorlieben zu Identätsmerkmalen erklärt. Zwei Beispiele:

In einem Beitrag für die FAZ vom 17.4.2019 hat ein Mediziner, Eberhard Passarge, die schrittweise Festlegung von Körpern auf eines der beiden Geschlechter beschrieben. Basis seiner Skizze ist die Prämisse, dass es bei Wirbeltieren biologisch gesehen zwei Geschlchter gebe, m#nnlich und weiblich. Demnach ist bereits in der befruchteten Eizelle festgelegt, ob eine Entwicklung in Richtung männlich oder weiblich vollzogen werden wird. Aber, so räumt Passarge ein: „Zwischen beiden Geschlechtern kann zunächst nicht unterschieden werden. Erst nach Abschluss der Entwicklung ist dies möglich.“ Passarge unterscheidet zudem drei Ebenen der biologischen Geschlechtsbestimmung, die Ebene der Chromosomen, die der inneren und die der äußeren Geschlechtsorgane. Auf allen drei Ebenen finde Geschlechtsentwicklung statt. was bedeuten kann, dass bei jedem der nun folgenden Schritte eine Menge schief gehen kann, was zumindest die biologische Eindeutigkeit angeht. Außerdem können Ebenen fehlen oder einfach nicht zusammen passen.

Für Tiere schon blöd, bei Menschen kämen aber noch zwei Ebenen hinzu, die psychologische und die rechtliche. Es könne also sein, dass sich jemand nicht eindeutig als Mann oder Frau versteht oder anders versteht als seine biologische Ausstattung nahelegt. Juristisch folgt dasrauf das Problem, wie eine solche Person eingeordnet werden kann, als Mann oder Frau oder divers. Immerhin plädiert Passarge für die individuelle Selbstbestimmung, jeder legt also selbst fest, als was er eingeordmet wird.

Interessant ist daran, dass die Ebene kulturelle Muster – also der Festlegung dessen, was in der jeweiligen Kultur männlich oder weiblich (oder divers) zu sein, heißt – völlig fehlt. Dabei ist es offensichtlich, dass sich Männer- und Frauenbilder allein schon in den Industrieländern seit dem frühen 20. Jahrhudnert massiv verändert, und sich zudem ausdifferenziert haben. Heute ein Mann oder eine Frau sein zu wollen, heißt schon etwas anderes, als es vor 100 Jahren bedeutet hat. Und zugleich sind die Variationen innerhalb der Geschlechterbilder massiv angewachsen. Man kann viel mehr wählen, auch wenn die Wahl unbewusst stattfinden mag. Bei Passerge gibt es aber nur weiblich fühlen, männlichen fühlen oder divers.

Ein korrespondierender Umstand findet sich im Text von Eva-Maria Tepest, in dem es darum geht, für eine „schlagkräftige linke Bewegung“ die „geballte queere Energie“ zu nutzen. Dort findet sich eine Anfangspassage, die wohl provozieren und zugleich erhellen soll, worum es geht: „Seit Jahren habe ich keine heterosexuell lebende Frau mehr getroffen, die sich nicht wünschte, auf Frauen zu stehen. Keinen heterosexuell lebenden Mann, der sich nicht gern von seiner Partnerin penetrieren lassen würde. 2016 identifizierten sich 11,5 Prozent der 15- bis 29-Jährigen hierzulande laut einer ‚EuroPulse“-Umfrage als LGBT. Nicht heterosexuell, queer zu sein ist so en vogue wie der US-Schauspieler Ezra Miller in High Heels auf dem Cover des ‚Playboys‘.“ Im nächsten Satz aber sprich Tepest vom Zerbröckeln des „Einverständnis mit traditionellen Genderrollen“. Danach wendet sich der Beitrag dann möglichen Bündnissen zwischen queer und links zu.

In diesen wenigen Sätzen vermengt Tepes sexuelle Fantasien, Vorlieben und Praktiken, Frustration über die gelebte Heterosexualität, queere Identität und Geschlechterrollen. Wie sehr in eins geworfen wird, was so nicht vergleichbar ist, lässt sich an den ersten beiden Sätzen sehen: Frauen im Bekanntenkreis der Verfasserin wünschen sich, lieber homosexuell zu sein, also eine andere grundsätzliche sexuelle Vorliebe zu haben. Männer hingegen wünschen sich eine Ergänzung ihrer sexuellen Praxis mit ihren Frauen, dass nämlich diese sie penetrieren. Dass ein Mann penetriert zu werden wünscht, mag zwar homosexuell vorgeprägt sein, ist hier aber heterosexuell eingebunden. Zwei Sachen also, die so nicht vergleichbar sind.

Davon einmal abgesehen, dass nicht alles, was ungefähr gleich klingt, auch dasselbe ist, geht in diesen Sätzen etwas verloren, nämlich die Einsicht, dass sexuelle Praktiken mit Geschlechterrollen nicht identisch sind. Und dass Geschlechterrollen kulturell festgelegt werden und dann übernommen werden müssen. Das trifft grundsätzlich auch auf sexuelle Praktiken zu. In diesem Bereich hat sich aber – spätestens durch die Trennung von Öffentlichem und Privatem – ein Primat der individuellen Wahl durchgesetzt. Jeder treibts also wie er/sie/divers will, wenns sein ode rseine Gegenüber mitmachen. Sex ist abhängig von Neigungen und Gelegenheiten. Das mag dann zusammenpassen oder auch nicht, was der jeweiligen Frustrationstoleranz überantwortet ist. Jedenfalls lässt sich aus einer sexuellen Praxis oder auch nur Fantasie keine Geschlechterrolle ableiten, und erst recht keine Identität. Queere Identitäten sind mithin eine ebenso starke Konstruktion wie heterosexuelle, immer abgeglichen oder abgearbeitet an kulturellen Mustern, denen die Einzelnen folgen wollen oder auch nicht. Ob daraus schon die „Sehnsucht nach dem Ende der Geschlechterordnung“ folgt, kann man offen lassen oder auf sich zukommen lassen. Am Ende werden auf alte eben neue Ordnungsmuster folgen. Alles andere wäre zu anstrengend.