Beziehungskalküle bei Agatha Christie (oder ein angewandter Brecht)
2. Januar 2024
Agatha Christie war nicht nur eine kreative und äußerst amüsante Krimiautorin, sie führt auch die Diskussionen etwa zur ökonomischen Basis der weiblichen Emanzipationr der 1920er und frühen 1930er Jahre weiter. Dabei reproduziert sie auch die jeweiligen Tendenzen ihrer Zeit, was angesichts der langen literarischen Karriere einige Wendungen impliziert. In dem erstmals 1939 unter dem Titel „Easy to Kill“ erschienenen Roman (auf deutsch „Das Sterben in Wychwood“, hier in der Fassung der 17. Aufl. 1984 bei Scherz) findet sich das Streigespräch eines Mannes, Luke, und einer Frau, Bridget, die erkennbar im Verlauf der Geschichte zum Paar werdens wollen. Zum Zeitpunkt des Gespräche ist die Frau jedoch noch die Sekretärin und werdende Gattins des Zeitungsmagnaten Lord Whitfield, der sich in seinem Geburtsort Wychwood eine Residenz leistet. Kurz zuvor haben die beiden in einem Tennismatch gegen den Bräutigam nur deshalb verloren, weil Bridget ab dem Moment, in dem der Lord übelste Laune bekommt, ihre miserabelste Tennisform zeigt, offensichtlich weil er das Match zu verlieren droht – und ein Mann seines Standes verliert nicht gern.
Luke ist empört und stellt Bridget zur Rede, nicht ohne sich bei dieser Gelegenheit zu erklären. Was ihm freilich zu diesem Zeitpunkt – mehr oder weniger auf der Hälfte seiner Ermittlungen zu einer merkwürdigen Reihe von Todesfällen Wychwood – noch abschlägig beschieden wird, und zwar auf einer klaren wirtschaftlichen Entscheidungsgrundlage. Sie erklärt Luke schlicht: „Gordon“ – das ist der Vorname von Lord Whitfield – „ist mein Butterbrot. Sie nicht.“ Auf die Frage, warum sie Lord Whitfield heiraten will, antwortet sie zudem damit, dass sie als Ehefrau deutlich besser gestellt sei denn als Sekreträrin. 100.000 Pfund als Ausstattung, einiges an Schmuck und ein ordentliches Toilettengeld schlagen sechs Pfund die Woche ziemlich deutlich. Dafür muss sie als Ehefrau allerdings „andere Pflichten“ erfüllen, was die kaum verdeckte, aber immer noch umschriebene Wendung für die sexuellen Dienstleistungen ist, die die Ehefrau im Rahmen ihrer ehelichen Pflichten erbringen muss, so zumindest der zunehmend eifersüchtige Luke.
Bridget tut das aber als „melodramatischer Haltung“ ab: Der vermögende Gatte sei mehr Junge als Mann, seine Bedürfnisse richteten sich auf den Ersatz der früh verlorenen Mutter, er bedürfe der Aufmerksamkeit. Sex – der nicht ausdrücklich erwähnt wird – wird also nicht die Leistung sein, die die erbringen muss, auch wenn Bridgets Argument, das folgt, eine literarische Schwachstelle hat: „Meine Aufgabe als Gordons Gattin wird kaum von meiner Aufgabe als Gordons Sekretärin zu unterscheiden sein.“ Man erinnere sich an die Vorgeschichte von Keuns „Kunstseidenem Mädchen“ oder an Rudolf Braunes „Mädchen an der Orga Privat“, dass da auch mehr sein kann.
Mitgedacht ist das hier nicht, aber Agatha Christie schließt auch so an die Fragestellungen deutschsprachigen Romane der frühen 1930er Jahre an, die immer durchspielen, wie denn junge Frauen in der modernen Gesellschaft, die ihnen zwar mehr Rechte und Möglichkeiten, aber eben auch mehr Risiken bescheren, bestehen sollen. Vicki Baums „stud. chem. Helene Willfüer“ oder Helene Wolffs Nachlassroman „Hintergrund für Liebe“ ( jüngst erst herausgegeben als eines der letzten Bücher bei Weidle in Bonn, vor dem Verkauf) führen das vor, auch Keuns „Kunstseidenes Mädchen“. Das wirtschaftliche Überleben ist dabei ein vorrangiges Ziel, das mit verschiedenen Mitteln erreicht werden kann, auch mit der Ehe, auch mit der Prostitution und gelegentlich mit einer Kombination von beidem.
Das macht die Situation zwischen Luke und Bridget nicht einfacher, aber klarer. Er ist ein wenig altmodisch und melodramatisch, sie ist eben eine moderne Frau, die sich um sich selbst sorgen muss. Das bringt ihr den Vorwurf ein, ein „kaltblütiger kleiner Teufel“ zu sein, was sie damit kontert, dass sie ihn einen „heißblütigen kleinen Narren“ nennt.
Und um ihr Konzept noch tragfähiger zu machen, trägt sie ihre Geschichte mit einem gewissen Johnnie Cornish vor, den sie geliebt, der sie aber für eine „rundliche Witwe mit ländlichem Akzent, einem Doppelkinn und einem Einkommen von dreißigtausend Pfund im Jahr“ verlassen habe. So etwas könne einem schon die Romantik austreiben. Um Romantik, lernen wir daraus, geht es in wirtschaftlich schweren und zugleich unruhigen, ja dynamische Zeiten eben nicht, sondern darum zurecht zukommen. Was auf den Satz vom Vorrang des Fressen vor der Moral verweist.