Fantasielosigkeit

8. September 2017

Die englische Jugendbuchautorin Meg Rosoff hat in einer Rede, die am 7. September 2017 in der FAZ abgedruckt wurde, dafür plädiert, dass die britischen Behörden nicht einseitig naturwissenschaftliche oder betriebswirtschaftliche Fächer bewerben. Deren Relevanz zu betonen, beruhe auf einem tiefgreifenden Irrtum unter anderem darüber, woher auch in solchen Fächern Innovation und Kreativität stamme. 

Stattdessen solle man sich mehr vor Augen halten, dass die Welt im  weitesten Sinne auf Geschichten beruhe und dass der, der sich mit solchen Geschichten beschäftige, mehr von Welt erfahre als der, der sich dem verweigere. 

Sie bezieht sich dabei auf die Warnung Richard Dawkins‘, der gemeint habe, dass die meisten Märchen einer genaueren Untersuchung nicht stand halten würden. Was – bei näherer Betrachtung – ein sinnloser Satz ist. Es kann natürlich sein, dass er falsch übersetzt worden ist und gemeint ist, dass Märchen bei genauerer Betrachtung keine vernünftigen Botschaften oder Lehren beinhalten. Oder so etwas ähnliches.

Wenn das aber so gemeint ist, dann muss man Dawkins leider attestieren, dass er keine Ahnung von Märchen hat. Dass deren Anwendbarkeit in einer komplexen Gesellchaft wie der heutigen sich möglicherweise geschmälert hat, bleibt davon unbeeinflusst. In der Gesellschaft, in der sie entstanden sind, haben sie hingegen einen großen Anwendungscharakter, auch wenn man gelegentlich zweimal hinschaun muss, um ihn zu sehen.

Nun muss man sich allerdings auch fragen, wieso nun gerade Märchen für das Thema Kreativität herhalten müssen, da nun gerade sie sich ja keineswegs einem spielerischen Umgang mit Welt resp. Fiktion verdanken. Sie sind metaphorische Erzählungen. Das, was wir heute unter angewandter Kreativität verstehen, hat sich davon allerdings mittlerweile weit entfernt. Um nicht zu sagen, dass alle Genres von der Art „Harry Potter“ bloß den Bodensatz von Kreativität anzeigen, während deren Hauptspiel auf einer ganz anderen Ebene stattfindet.

Aber damit sei Frau Rosoff keineswegs widersprochen: Storytelling und die Lektüre von Geschichten gehören zu den wichtigsten Verfahren, Welt zu verstehen, die wir heute haben. Und das nicht nur seit dem „narrative turn“. Das wusste etwa schon ein Dieter Wellershoff um 1970.

Im übrigen setzt Frau Rosoff zur Sicherung ihrer These ein abgesunkenes Märchen von einem Mädchen ein, das sich in ein Haus verirrt, das Bären gehört, vom Brei der Bären nascht, in einem ihrer Bettchen schläft und schließlich von ihnren gefressen wird. Naheliegend ist das Haus nur ein Loch, der Brei sind verwesende Hasenreste und das Bett ein von Bärenkot stinkender Blätter- und Reisighaufen. Kein Wunder, dass das Kind gefressen wird, auch wenn es Goldlöckchen heißt. Aber ganz im Ernst, so, wie Frau Rosoff diese Geschichte erzählt, gefällt sie mir besser als in der angeblich kreativen Variante. Vor Bären und Märchenerzählern soll also gewarnt sein. Gerade wenn sie vor Märchen warnen.