Einwanderung in der aufgeklärten Gesellschaft

30. Sepember 2015

Der Berliner Historiker Jörg Baberowski wird als beeindruckender und engagierter Wissenschaftler charakterisiert, dem seine fachliche Reputation egal ist, solange er intellektuell überzeugend sei. In einem Essay für die FAZ vom 14. September 2015 kritisiert er, dass Moral für eine Einwanderungspolitik kein Maß stellen könne. Diese müsse stattdessen zwischen Einwanderung und Asyl unterscheiden – wenn also Deutschland ein Einwanderungsland werden solle, dann müsse das auch so strukturiert werden. Politisch und gesellschaftlich verhängnisvoll sei es aber, einfach alles ins Land zu lassen, was unter den gegebenen Umständen ins Land wolle.
Auf die „dunkle Seite der ungesteuerten Einwanderung“ werde – so Baberowski schwelgend – „der Mantel des Schweigens geworfen“. 

Grundsätzlich hat Baberowski recht, wenn er von der Politik gerade auch in Sachen Einwanderung und Asyl klare Entscheidungen und Ziele fordert, die mit dem Auftrag ihrer Wähler übereinstimmen. 

Zugleich torpediert Baberowski dies jedoch, wenn er gegen die Einwanderung einwendet, dass die „Integration von mehreren Millionen Menschen in nur kurzer Zeit“ den „Überlieferungszusammenhang, in dem wir stehen und der einer Gesellschaft Halt gibt und Konsistenz verleiht“ unterbreche. Der Kitt, der die Gesellschaft früher zusammengehalten habe, sei „Gemeinsam Erlebtes, Gelesene und Gesehenes“. Davon sei wenig übrig geblieben, außer – verkürzt gesagt – „höfliche Nichtbeachtung“.
Das gehe normalerweise gut, was aber geschehe in der Krise? Was halte die Gesellschaft dann zusammen?

Das gemeinsam Erlebte, Gelesene, Gesehene? 

Nun wird man schon große Zweifel haben können, ob jeder beliebige Nachbar derselben Erlebnis-, Lese- und Sichtgemeinschaft angehört als man selbst. Von den Differenzen zwischen Jungen und Alten, Ost- und Westdeutschen, Nord- und Süddeutschen, Rheinländern und Westfalen etc. ganz abgesehen. Wenn an die Stelle eines Verfassungspatriotismus, den seinerzeit Jürgen Habermas vorgeschlagen hat, auf einmal wieder Gemeinschaften treten sollen, dann ist die Entscheidung – auch für die Krise – recht einfach. Gesellschaft statt Gemeinschaft. Lieber eine funktionierende und akzeptable Verfassung als eine Gemeinschaft mit Leuten, mit denen es wenig Gemeinsamkeiten gibt, auch wenn sie dies behaupten. Solche Intimitäten sollte man sich lieber für seine engsten Freunde und Partner vorbehalten und sie nicht zum Instrument der Einwanderungspolitik machen.