Lob des Landlebens

2. November 2020

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land gilt derzeit als zerrüttet, mit klarer Rollenverteilung: Das Land muss austragen, was ihm die Stadt eingebrockt hat, und das ist so ziemlich alles zwischen Arbeitsplatzabbau und Pendelstress, zwischen schlechter Infrastruktur und Schredder-Windparks, zwischen Ökoterror und Gendergerechtigkeit – die Liste ist frei fortführbar. Während hie (Land) die Welt noch vor sich hinplätschert, solange es keine Störungen von außen (Stadt) gibt, wird dort so ziemlich alles in Frage gestellt, was bislang als gesichert gelten konnte, das generische Maskulinum, die Grenzen, die Deutsche Mark und vielleicht sogar der deutsche Wald.

Nachdem die vergangenen Monate anscheinend vor allem die Landleute ihr Leid geklagt haben, scheint die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der Meinung gewesen zu sein, man müsse doch auch einmal eine gelungene Stadtfluchtgeschichte bringen, also von einer Familie, die aus der Stadtwohnung auszog, um ins Land einzuziehen und dort sogar zu leben.

Die ist dann just an diesem Sonntag erschienen (Martin Benninghoff: Raus aus der Hamburger Blase, in FAS vom 1.11.2020, S. 12). Erzählt wird von einem Paar mit drei, bald vier Kindern, das aus der dreieinhalb Zimmer Wohnung in Hamburg aufs Land gezogen ist, weil in der Stadt kein bezahlbares Haus mehr zu bauen oder zu kriegen war. Und das, obwohl beide Elternteile berufstätig sind, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni und als Behördenmitarbeiterin. Anscheinend reichen derzeit aber selbst solche Einkommen nicht mehr, um in Hamburg etwas angemessen Großes zu bekommen. Was immerhin bemerkt sein soll.

Angekommen ist die kinderreiche Mittelstandsfamilie in Dithmarschen, also irgendwo zwischen Husum und Hamburg, kurz hinter Wacken, das man aus anderen Zusammenhängen kennt. Glaubt man dem Artikel, dann ist das etwa anderthalb Stunden von Hamburg entfernt.

Vor zwei Jahren sind die Leute dahingezogen, auf einen alten Hof, den sie mit einer zweiten Familie gekauft haben. Und sie haben sich mustergültig integriert. Die Kinder spielen beim Bauer nebenan und der Mann ist bei der Freiwilligen Feuerwehr.

Beide arbeiten zwar noch in Hamburg, aber er muss nur hin und wieder an die Uni („tageweise“) und sie macht das meiste im Homeoffice für die Behörde, sonst fährt sie „einige Tage im Monat“ rüber.

Womit die Bedingungen für die Idylle, die sogar der Autor der Reportage wahrnimmt, genannt sind: Wer aufs Land will, muss sich integrieren wollen und sollte am besten nicht täglich pendeln müssen. Ansonsten könnten sie Belastungen fürs Alltagsleben schon ganz schön anwachsen, sodass für alles andere (für den Schnack zwischendurch, die freiwillige Feuerwehr oder sonstwas, was dazu gehört, damit man sich als Ortsfremder in die Gemeinschaft, die nicht zerfallen soll, integrieren kann) weder Zeit noch Kraft bleiben, zumal bei vier Kindern. Da könnte es schon zu Unmut auf der anderen Seite kommen.

Aber die Stoßrichtung der Reportage ist offensichtlich, dass nämlich die „Stadt nicht zum Feindbild und das Land nicht zum Idyll taugt“, dem zuzustimmen und zu widersprechen ist. Es kommt immer drauf an, wer sich damit abgibt. Immerhin scheint auch den Beteiligten (dem porträtierten Paar und dem Reporter) aufgegangen zu sein, dass die zugewanderten Akademiker in ihrer neuen Heimat (das musste jetzt sein) Exoten sind und bleiben. Aber vielleicht auch was mitbringen, was der ländlichen Idylle von Nutzen sein kann.

Aber darauf kommts es nicht an, denn der Ärger zwischen Stadt und Land entsteht angeblich wegen der massiven Vernachlässigung der Peripherie, kombiniert mit den Zumutungen, denen man sich zur gleichen Zeit ausgesetzt sieht. Allerdings lohnt der zweite Blick und ein bisschen Zurücklehnen vielleicht auch. Beispiel Fahrverbote, die bekanntlich vor allem in der Stadt ausgesprochen werden: Sie als nächste Attacke Stadt gegen Land zu attackieren (weil man dann eben sein Auto am Stadtrand abstellen muss, statt mal schnell reinzuhuschen), ist schon ziemlich motzig (ausgedacht? Nicht die Bohne, siehe die Zeit vom 13. Juni 2019 und die Notes vom 24. Juli desselben Jahres).

Warum das Interesse an den Verwerfungen von Stadt und Land bleibt, lässt sich freilich an derselben Ausgabe der FAS erkennen: Es stammt nämlich aus dem denkwürdigen Erfolg der AfD nicht auf dem Land, sondern an der Peripherie. Aus Frankreich stammt die Behauptung, dass der Erfolg von Le Pen desto größer ist, je mehr ein Ort vom nächsten Bahnhof entfernt ist. Verbockt hats der französische Zentralismus (siehe Notes vom 5. Januar 2019).  

Auch in Deutschland ist diese Überlegung nicht ganz fremd. Zwar gibt es die AfD überall, aber in der Peripherie, nämlich da, wo man von allem ziemlich weit weg ist, wo alle weggehn und nie was passiert, da ist sie anscheinend (oder angeblich) besonders erfolgreich. Und das trotz des deutschen Föderalismus, ders ja nicht einmal schafft, sich auf gemeinsame Corona-Richtlinien zu einigen (zu motzen gibt es  immer was).

Einen Kölner Wirtschaftswissenschaftler, Matthias Diermeier, hat das anscheinend keine Ruhe gelassen, und er hat – gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zufolge, also der FAS – alles was an Statistiken und Datensammlungen zu kriegen war, auf Relationen abgefragt, die den Erfolg der AfD begründen können.

Wenn man dem Artikel (Justus Bender: Bahnhöfe sind keine Lösung, in: FAS vom 1.11.2020, S: 6) glauben darf, dann gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg der rechtpopulistischen AfD und dem Gefühlt, der Staat kümmere sich nicht ausreichend.

Aber anscheinend gibt es keine statistische Beziehung zwischen der Entfernung zum nächstgelegenen Bahnhof und den Wahlerfolgen der AfD, bei Krankenhäusern ist das anscheinend aber anders. Auch erstarkt die AfD, wenn die Abwanderung in einem Gebiet steigt. Das liegt aber nicht an den Alten, die zurückgeblieben sind. Denn „je mehr Alte im Ort, umso schwächer die AfD“, aha. AfD-Wähler seien, gegen die vielleicht naheliegende Vermutung, statistisch gesehen absoluter Durchschnitt, also völlig unscheinbar. Auch die Größe der Ortschaften sei, so der Bericht, relevant, wobei möglicherweise (also eine Vermutung) die Erwartungen an die Ortsgröße eine Rolle spiele: In kleinen Orten unter 5000 Einwohnern erwarte niemand anscheinend eine ausgebaute Infrastruktur etc., also alles, was zur sogenannten Daseinsvorsorge gehört, in größeren Orten aber schon. Dumm, wenn davon dann zu wenig vorhanden ist: Arbeitsplätze mit Zukunft, gutes Straßennetz, schnelles Internet, Läden zum einkaufen und alles was dazugehört. Dann steigt die Zustimmung zur AfD. Frische Luft ist da wohl nicht so wichtig, aber das Verhältnis zur Gesellschaft und zu dem, was sie für einen tun soll.

Alles nicht so einfach? Angesichts dessen, dass Statistiken und Datensammlungen für solche Auswertungen einfach nicht genau genug sind, ist das ein angemessenes Ergebnis.

Zu guter Letzt aber liefert der FAS-Artikel doch noch eine Leitlinie, an die sich auch Politik halten kann: Überall da, wo es eine hohe Arbeitslosigkeit, eine niedrige Wahlbeteiligung und eine geringe Daseinsvorsorge – also eine hinreichende Versorgungsinfrastruktur – gibt, ist die AfD besonders erfolgreich.

Mit der Auflösung des Stadt-Land-Konflikts durch Zuzug ist also dem Defizit, das zur Wahl einer Partei wie der AfD führen kann, nicht beizukommen.


Von Frau Krug und dem Ende ihres beschaulichen Lebens

15. September 2020

Die Energiewende spaltet die Gesellschaft, der Ausbau der Windenergie provoziert lokale Widerstände, die Lasten haben die Anrainer auf dem Land zu tragen, während die fernen Betreiber Profite eintreiben. Als Angriff der Stadt auf das Land wird das alles verstanden, als Angriff auf die Natur und eben auch auf uralte Kulturräume. Nicht zuletzt auf die bis dahin haltbaren Werte, etwa von Immobilien, die durch die neuen Nachbarn rasant verlieren. Schließlich rauben Windparks in der Nachbarschaft Anrainern Gesundheit und Schlaf. Die schöne Ruhe ist vorbei, die Beschaulichkeit des ländlichen Lebens ist nachhaltig – zerstört. Und da das alles überall zugleich passiert, gibt es keinen Zufluchtsort mehr, sondern nur noch das hilflose Festhalten am Widerstand gegen die neue Industrie, auf dem Land, im Wald, in der Natur und vor allem in der Nachbarschaft.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 14. Juni 2020 fand sich eine Reportage von Tobias Schrörs, der, wie der Website der FAZ zu entnehmen ist, Redakteur der Politischen Redaktion der FAZ ist. Die Überschrift: „Kampf gegen Windmühlen“, von dem wir ja wissen, dass er vergeblich ist.

In Schrörs Geschichte ist das auch so. Erzählt wird die Geschichte einer Frau mit Namen Vera Krug, die mit Mann und zwei Söhnen in Wald-Michelbach im Odenwald lebt. Wald-Michelbach liegt, wenn Google da korrekt informiert, ca. 50 km nördlich von Heidelberg, also keineswegs in einer der menschenleeren Regionen der neuen Bundesländer, von denen sonst immer die Rede ist, sondern mitten in einem der Herzländer der alten Bundesrepublik.

Frau Krug wird vielleicht 45 oder 50 Jahre alt sein, arbeitet von zuhause aus (sie gibt Stammdaten für eine Firma ein, dafür muss man nicht ins Büro, ist aber auch keine ungebildete Landpomeranze) und führt ein beschauliches Leben mit eigener Pferdekoppel. Was ihr Mann arbeitet, wird nicht berichtet, muss ja auch nicht, es geht ja um sie.

Bis 2016 hat Frau Krug dieses Leben geführt, bis sie mitbekommen hat, dass in ca. 2 km Entfernung ein Windpark mit fünf Anlagen gebaut werden soll. Fünf sinds am Ende geworden.

Die Planung ist, wie berichtet wird, ganz normal gelaufen, anscheinend über Beschlüsse des Gemeinderats, der sich seit 2011 der Sache angenommen hat. 2011, das ist das Jahr, in der der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde. Fukushima war da eine deutliche Warnung, die sogar in einer CDU/CSU geführten Regierung angekommen ist. Was dieses Verfahren impliziert ist die öffentliche Beteiligung, die bis in die Regionalplanung hinein wirkt, in der die Ausweisung von Windvorranggebieten beschlossen wird. Ziel solcher Windvorranggebiete ist es im übrigen, dem Wildwuchs von Windparks entgegenzuwirken und den Ausbau auf geeignete Flächen zu beschränken. Wobei geeignet heißt: Sie müssen windstark genug sein und die Anrainerinteressen müssen gewahrt werden können, also kein unziemlicher Lärm, keine landschaftsplanerische Beherrschung und schließlich auch keine unzumutbare Belastung durch Schattenwurf. Auch naturschutzrechtliche Aspekte werden berücksichtigt, weshalb Schwarzstörche eine prominente Rolle bei der Planung und Verhinderung von Windparks spielen. Findet sich nämlich ein Schwarzstorchhorst, dann ist das Gebiet im Umkreis von drei km tabu.

Mit anderen Worten, die Regionalpläne dienen auch dem Schutz der Anrainer und der Natur. Das Genehmigungsverfahren ist öffentlich und wird auch nicht irgendwo geführt, sondern gemeindenah. Sobald der Gemeinderat aktiv wird, kann jeder Bürger an dem Verfahren teilnehmen. Man muss sich halt nur kümmern.

Das aber hat Frau Krug anscheinend nicht getan. Sie hätte aber wohl über die Jahre mitbekommen können, dass Windenergie ein Thema ist, das nicht nur „durch die Apparate“ „bis hinunter zum Kreis Bergstraße ins Rathaus von Wald-Michelbach“ „gesickert“ ist. Und spätestens seit 2011, dass das auch bei ihr vor Ort relevant ist. Nicht nur im Rathaus.

Denn anders als es der Bericht von Tobias Schrörs nahelegt, ist die Entwicklung der Windenergie keine Sache, die erst 2011 mit dem Atomausstieg oder 2000 mit dem Erneuerbare Energien Gesetz beginnt oder die irgendwie in den Ämtern quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit betrieben wird. Das Thema findet zum ersten Mal einen gesetzlichen Anker im sogenannten Stromeinspeisegesetz von 1990, das von der Regierung Kohl verabschiedet wurde. Danach folgte der Boom der Bürgerwindparks, also von Windparkprojekten, die von Gesellschaften, in denen sich teilweise mehr als 100 recht normale Leute zusammengetan hatten, um einen Windpark zu betreiben. Schon in den späten 1990er Jahren gab es eine Verpflichtung von Gemeinden, Flächen für die Windparknutzung auszuweisen, was anscheinend in Wald-Michelbach seinerzeit versäumt wurde. Oder damals wollte niemand an das Thema ran. Ab 2011 war das anscheinend anders.

Alles richtig gemacht?

Die Gemeinde hat aus ihrer Sicht alles richtig gemacht. Sie hat Flächen ausgewiesen, bei denen sie mitverdient, immerhin 200 TEuro Pacht pro Jahr. So schlecht kann der Standort nicht sein. Sie hat ein Verfahren mit öffentlicher Beteiligung durchgeführt. Und anscheinend haben keine relevanten Belange der Genehmigung entgegen gestanden. Relevante Belange wären etwa gesundheitliche Einschränkungen.

Nun weist der Bericht in der Tat auf gesundheitliche Einschränkungen hin: Dafür wird das Infraschallargument bemüht, also der Hinweis, dass auch nicht hörbare tieffrequente Schallwellen (hier < 20 Hertz) gesundheitlich schädliche Wirkungen haben können. Frau Krug berichtet von Kopfschmerzen und Nervosität. Das Wohnhaus von Frau Krug liegt in einer Entfernung von fast 2 km zum Windpark, was nach Stand der Forschung jede Wahrnehmung von Infraschall ausschließt.

Dafür verweist Frau Krug darauf, dass die Anlagen besonders nachts um drei Uhr besonders laut seien, ein Satz, der eigentlich korrekt geschrieben lauten müsste: Sie sind nachts (auch um drei Uhr) besonders gut wahrnehmbar, weil die Umgebungsgeräusche zu diesem Zeitpunkt besonders gering sind und die Fokussierung des Hörenden auf jedes Geräusch besonders stark ist. So hört man eine durchfahrende Bahn auch aus großer Entfernung nachts bei Windstille oder zutragendem Wind besonders gut, während man sie tagsüber niemals hören würde.

Das betont den subjektiven Faktor, der in solchen Problemlagen eine besonders große Rolle spielt. Auch anscheinend im Falle Frau Krugs, die, wenn man dem Bericht folgen darf, sich bereits jetzt auf ihren Lebensabend vorbereitet, die Kinder bald aus dem Haus, das Haus ist abbezahlt, man hat Ruhe. Bald wird man seiner/ihrer Arbeit Früchte genießen können. Für einen Menschen, der wohl noch 15 bis 20 Jahre bis zur Rente hat, ist das eine aufschlussreiche Haltung. Aber davon einmal abgesehen, wenn Frau Krug nun mal tatsächlich unter den Anlagen leidet? Selbst wenn es nur seelisch ist (psychisch wäre schon despektierlich)? Ist das zumutbar? Was kann eine Gesellschaft ihren Mitgliedern zumuten?

Aber weiter in der Geschichte, respektive in ihren Lücken gewühlt.

Schön wäre es für diesen Zusammenhang auch zu wissen, ob Frau Krug zugezogen ist oder auf einem alten Grundstück der Familie gebaut hat. Auffallend ist nämlich, dass das Heimatargument, das ansonsten immer wieder auftaucht (auch im Zusammenhang mit dem Braunkohletagebau im Rheinland), bestenfalls angedeutet wird. Auch wird nicht mitgeeilt, ob sie oder ihre Familie hier schon länger ansässig sind, vielleicht über Generationen?

Stattdessen beginnt der Text mit den Sätzen: „Bevor die Windräder kamen, war alles ruhig, Vera Krug führte ein beschauliches Leben in Wald-Michelbach, einem kleinen Ort im Odenwald. Die große Politik war weit weg.“ Mit solchen Sätzen könnte auch ein modernes Märchen beginnen – und leider liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dieser Reportage um ein modernes Märchen handelt, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Aber eben als Lehrstück verhandelt werden soll.

Aber Frau Krug leidet nicht nur – was ihr niemand nehmen kann –, sondern hat auch andere Argumente: den Tier- und Naturschutz vor allem. Der Schutz des Schwarzstorches und von Rotmilanen steht dabei im Vordergrund. Außerdem könne es doch nicht richtig sein, „in den Wald Industrieanlagen“ zu stellen. Was in der Tat erst bei neueren Projekten – als seit ungefähr 2010 – möglich ist, weil die Gesamthöhe der Anlagen so stark gewachsen ist, dass vom Wald keine störenden Einflüsse mehr auf die Windhöffigkeit zu erwarten ist.

Darüber hinaus betont sie, dass sich das Projekt wirtschaftlich nicht rechne (was der Betreiber dementiert). Wie überhaupt die Energiewende misslungen sei, setze sie doch (um das Argument etwas anders anzuordnen) auf „Industrialisierung durch Windkraft“, was doch wohl nicht – und das ist tatsächlich ein wenig missverständlich formuliert – „im Sinne des Klimawandels“ sein könne.

Alles das sind Argumente, die im Genehmigungsverfahren, aber auch in der politischen Debatte eine Rolle spielen. Fehlurteile und anderes einmal ignoriert: Sie sollten dort auch angemessen behandelt werden. Also Anlagen nur da, wo der Naturschutz berücksichtigt wird oder hinreichende Kompensationsmaßahmen umgesetzt werden können. Immerhin eine Anlage ist so anscheinend nicht zustande gekommen. Ist also irgendetwas falsch gelaufen?

Eine andere Geschichte (mit stark fiktionalem Anteil)

Nun kann man die Geschichte von Frau Krug – zugegeben mit einigen fast böswilligen Unterstellungen – auch anders erzählen: Da zieht eine junge Frau samt Familie aufs Land, weil sie endlich Ruhe, einen eigenen Garten und vielleicht sogar Pferde haben will. Frau Krug daheim hat mit dem alten Arbeitgeber einen Deal gemacht und darf von zuhause aus arbeiten. Das hilft auch finanziell. Voraussetzung ist eine gute Internetverbindung, und die gibst es hier offensichtlich. Die Familie baut ein Haus, eine Koppel, es werden Pferde angeschafft, die Arbeit ist nicht stressig, die Jungs gehen in den nahegelegenen Ort zur Schule. Die Familie richtet sich ein und kümmert sich nicht weiter. Was in der weiten Welt passiert, liest man morgens in der Zeitung und schaut man abends in der Tagesschau. Wenn das zu sehr nervt, lässt Frau Krug auch das. Beteiligung an der Gemeinde? Warum? Es ist doch alles gut organisiert. Der nahegelegene Wald ist ein Ort der Erholung und Erbauung. Frau Krug kennt den Förster, und im Winter, wenn Holz geschlagen wird, geht sie eben für ein paar Wochen dem Lärm und der Hektik aus dem Weg. Immerhin wird in der Holzwirtschaft nicht mit Fuchsschwänzen gearbeitet.

Bis dann die Windkraftanlagen gebaut werden sollen. Damit ist die heile Welt hin, sie stören, alles wird anders. Statt der Vögel wird man sommers morgens um halb fünf von den Windkraftanlagen geweckt (was bezweifelt werden darf). Der schöne Ausblick ist verstellt. Nichts ist mehr wie es war.

Aber – das muss man eben auch einräumen – so war es ja auch nie (ja, das ist Spekulation).

Aber vielleicht so? Denn während Frau Krug zuhause bleibt (bleiben kann), pendelt Herr Krug weiter in die Stadt, vielleicht nach Heidelberg, Mannheim oder sogar nach Darmstadt. Er hat da einen guten Job, verdient gut, was gerade in den Zeiten, in denen das Haus abbezahlt werden muss und die Jungs ungeahnte Bedürfnisse entwickeln und ja auch noch die Pferde angeschafft worden sind, ganz hilfreich ist. Das tägliche Pendeln ist ätzend, aber er ist dran gewöhnt. Und am Wochenende kann er ja zur Erholung zuhause das eine oder andere am Haus oder Stall werkeln. (Vielleicht ist Herr Krug aber auch bei der Gemeinde oder Schreiner am Ort, was wir nicht wissen können.)

Wald-Michelbach ist klein, aber die Leute sind gut versorgt. Was man hier nicht bekommt, baut man selber an oder Herr Krug bringts aus der Stadt mit oder es wird geliefert. Die Infrastruktur ist gut, die Zufahrtsstraßen könnten besser ausgebaut sein (keine Ahnung, ich kenne Wald-Michelbach nicht). Die Lebensqualität ist hoch, weil die Krugs das Beste aus zwei Welten haben können und noch ihre Ruhe haben.

Die paar Touristen oder die Schwerlaster, mit denen das Holz aus dem Forst gefahren wird, stören nicht. Die Krugs haben sich gewöhnt. Die Post wird gebracht, sauberes Wasser fließt, Strom gibt’s aus der Steckdose, Schulen, Läden, Fernsehen, Internet, alles da. Geld verdient man irgendwie, zur Not fährt man täglich in die Stadt.

Soll heißen, die Idylle ist ein Märchen, eine Konstruktion, in der alles ausgeblendet wird, was nicht hineinpasst, aber alles genutzt wird, was einem normalen Mitteleuropäer ans Herz gewachsen ist.

Aber dann ändert sich was. Und schon ist der schöne Lebensabend perdu. Die kalte Welt der Industrien und Ökonomien bricht ein und zerstört alles, was sich Frau Krug aufgebaut hat, alles, alles.

Und ein solche Geschichte soll wahr sein? Anscheinend soll sie.


Über die Haltbarkeit der deutsch-finnischen Freundschaft

17. August 2020

In der FAZ vom 14. August 2020 warnt der in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, geborene Komponist, Lyriker und Essayist Jüri Reinvere vor dem Desinteresse der Europäer, ja der EU-Nationen aneinander. Jede Nation sei nur an sich selbst interessiert und versuche Vorteile, wenn nötig auf Kosten der anderen zu generieren. Der Frieden auf dem europäischen Kontinent sei eine Fassade. Wer dahinter schaue, sehe das alte Europa der Eifersucht, das Reinvere als unverwüstlich vital kennzeichnet.

Nun könnte man erwarten, dass Reinvere nach einem solchen Auftakt reihenweise Beispiele aus dem endlosen Geschacher der EU-Regierungen aufliste, begonnen bei den Sonderreglungen für die Briten (die ja nun ein Ende gefunden haben), über die Verteilregeln bei der Aufnahme von Flüchtlingsströmen bis hin zu den Klimaschutz-Vereinbarungen. Beispiele ließen sich sicher viele finden, wenn denn politische Auseinandersetzungen in einem derart komplexen Gebilde wie der EU mit dieser Perspektive betrachtet werden sollen.

Aber nichts davon. Reinvere bringt vor allem Beispiele aus dem Alltagsleben, vor allem vom alltäglichen Handeln und Denken und vor allem aus Estland, Finnland und Polen. Ein bisschen England und Deutschland kommt noch hinzu. Aber mehr auch nicht.

Was seine Beispiele sind? Der Reihe nach:

  • Als Reinvere 1989 – wohlgemerkt noch in den UdSSR-Zeiten und lange vor der EU-Mitgliedschaft der baltische Staaten – nach Polen gehen will, warnt ihn eine litauische Freundin vor den Polen, die alles Lügner und Verräter seien. Das ist seine Auftaktgeschichte.
  • 2020, also 30 Jahre später, erzählt ihm eine estnische Freundin, dass sie in Finnland keine feste Stelle als Organistin bekommen könne, weil sie Estin sei und keine Finnin.
  • Reinvere bestätigt diese Erzählung mit eigenen Erfahrungen aus sieben Jahren als Organnist in Finnland (von insgesamt 13 Jahren), in denen ihm immer wieder finnische Organisten, die deutlich schlechtere Musiker gewesen seien, vorgzogen worden seien. Er sei dann immer Ersatz gewesen, habe die anspruchsvolleren Sachen spielen müssen und dafür auch noch weniger Geld bekommen.
  • Ihm sei zudem aufgrund seines estnischen Akzents verboten worden, im finnischen Radio zu sprechen.
  • Allerdings gebe es solche Vorbehalte auch anderherum, nutzten die Esten die Finnen als Touristen, von denen sie kein sehr repsektvolles Bild hätten, doch zynisch aus. Was wohl zeitlich nicht besonders eingegrenzt werden soll.
  • In Frankfurt (Main, ist anzunehmen) habe er die russische Mitarbeiterin einer Buchhandlung sagen hören, dass die Balten „Verbrecher an der großen russischen Nation“ seien.
  • In Polen (anscheinend vor 30 Jahren, was allerdings nicht erwähnt wird) habe er seinen Professor sagen hören, dass der damalige litauische Präsident nie den Friedensnobelpreis bekommen werde, weil die „weltweit vernetzten litauischen Juden“ das verhindern würden.
  • In Deutschland (anscheinend wieder halbwegs in der Gegenwart) habe ein deutscher Vermieter, der ihn irrtümlich für einen Fnnen gehalten habe (aufgrund seines Passes), an die deutsch-finnische Freundschaft im 2. WK erinnert. Der Mann war entweder sehr alt oder ein Neofaschist.
  • Englische Freunde von Freunden hätten ihn im Pub (wann war das?) damit begrüßt, dass ja wohl alle Balten Russkies und Prostituierte seien. Was die Frage erlaubt, welche Erfahrungen diese Engländer mit Balten hatten oder über die Wirkung von Alkohol spekulieren lässt.
  • Als er in Finnland Freunde darauf aufmerksam gemacht habe (vor 2005), dass „viele finnische Männer estnische Frauen“ belästigten, sei das damit abgewiesen worden, dass Finnen keine Rassisten seien. Was wohl heißen soll, dass sie die Frauen als Männer und nicht als Finnen belästigt hätten und ihnen die Nationalität der Frauen egal war?
  • Antisemitismus im Vokabular in Estland sei den meisten nicht bewusst.
  • Die Täterrolle ihrer Länder im 2. WK und bei der Judenvernichtung hätten selbst lettische und litauische Intellektuelle nicht anerkannt.

Das Ganze wird an zwei Stellen als „Rassismus“ gekennzeichnet, was eine zumindest fragwürdige Bezeichnung ist, die für Unterschiede zwischen Finnen und Esten nicht wirklich passt. Finnische Rasse? „Nationale Ressentiments“ wäre vielleicht treffender, der Vergleich mit der „Black Lives Matters“-Bewegung hinkt nicht nur ein bisschen, auch wenn man Vorurteilsmuster nicht unterschätzen darf.

Nach dieser Liste von zeitlich weit auseinanderliegenden Erinnerungen, die zudem in weit divergierende Situationen gehören und zudem kategorial deutlich differenzierten Ereignisgruppen angehören, folgt ein überraschendes Resümee:

  • Die großen Nationen der EU seien an den Verwerfungen in Osteuropa nicht interessiert.
  • Bevölkerungen abseits der Ballungszentren seien an der EU nicht interessiert, sie sei ihnen aufgezwungen worden.
  • Das geeinte Europa sei der Traum urbaner und technikaffiner Wirtschaftseliten.

Was, genau betrachten, mit den Exempeln, die er nur so sprudeln lassen könne, nicht belegen lässt.

  • Die gegenseitigen Ressentiments russischer, baltischer, polnischer und finnischer Leute gehen auf einen lange zurückreichenden Erfahrungsraum, der eben symbolisch höchst aufgeladen ist und dessen Abrüstung wohl noch dauern wird. Was die Russen an dieser Stelle zu suchen haben, erschließt sich nicht.
  • Das dusselige Kneipen-Gerede von Engländern ebenso wie die peinliche Verbrüderung des deutschen Vermieters in Frankfurt ist wohl kaum als Beleg für die Europa-Abneigung der Bevölkerung peripherer Räume anzusehen.
  • Es ist zudem zu bezweifeln, dass es ein „über Jahrzehnte angesammelte(s) alltägliches Desinteresse der EU-Nationen aneinander“ gibt – und in jedem Fall kann man ein solches Desinteresse aus den Belegen nicht ableiten.

Soll am Ende heißen, dass Reinvere anscheinend das Gefühl hat, dass das mit dem Europa nicht so läuft, wie man sich das vorstellt, freundlich, friedlich, mit gegenseitiger Anerkennung, und außerdem hat er da ein paar Erinnerungen, die sich bei dieser Gelegenheit gleich mitabladen lassen und von denen er behauptet, sie stützten sein Unwohlsein.

Nur dass das, was er als Bericht und Argumentation liefert, dieses komische Gefühl nicht untermauert. Denn zum einen liegen die Beispiele zeitlich, kategorial und kontextuell zu weit auseinander. Was haben die Einstellungsusancen in Finnland mit den Belästigungen von etnischen Frauen und der Verweigerung von Intellektuellen zu tun, auch wahrzuhaben, dass ihr Land sich im 2. WK eben auch auf der Täterseite befunden hat? Erst mal wenig, und es wird nicht mehr, wenn mans in einen Topfen wirft und kräftig rührt.

Zum anderen kann und sollte man Alltagsakteure nicht mit Nationen identifizieren. Das Handeln der deutschen Regierung auf europäischer Ebene bekommt man mit dem revisionistischen Geschichtsbild eines anscheinend rechtsextremen Vermieters in Frankfurt nicht wirklich verbunden.

Recht geben kann man Reinvere darin, dass das europäische Projekt – so fehlerhaft auch ist – zwar immer noch einen hohen Wert hat, aber politisch derzeit gefährdet ist. Dass es dem europäischen Raum – bis auf die fatalen Balkan-Kriege – einen bis dahin nie dagewesenen, über Jahrzehnte haltenden Frieden ermöglicht hat, kann man allerdings deutlich stärker herausstellen, als er es hier tut. Nur verstellen vielleicht wirtschaftliche Interessen und politische Altlasten gelegentlich den Blick.


Von Polizisten und Menschen

11. August 2020

Säue müssen durchs Dorf getrieben werden (Eber bestimmt auch, aber das ist eine andere Debatte), so auch die des TAZ-Kommentars vom Juni 2020, in dem vorgeblich die Schreiberin verlangt habe, alle Polizisten auf den Müll zu werfen. Das ist aus Olchi-Sicht eigentlich kein böser Wunsch, aber auch das ist hier nicht Thema, sondern die Frage, wie es diese Gesellschaft mit ihren Polizisten hält.

Dass sie uns angeblich beschützen, kann man wohl grundsätzlich zu den Akten legen, denn was das angeht, kommen Polizisten in der Regel zu spät (nach dem Unfall, nach dem Verbrechen, nach dem Attentat usw.). Es ist auch nicht ihre Aufgabe, den einzelnen zu schützen, auch nicht den Besitz der Reichen, wie gerade noch einmal in einem TAZ-Artikel zu lesen war. Sie sollen stattdessen das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen, weswegen sie in einzelnen Bereichen tatsächlich auch proaktiv tätig sind. Schutz meint denn auch eigentlich vor allem, dass der Rechtsanspruch jedes einzelnen erhalten bleibt und notfalls auch gegen den Staat und die in seinem Namen Agierenden durchgesetzt werden kann und muss.

Nun kann man das staatliche System grundsätzlich als parteiisch, soll heißen als willfährigen Büttel des Kapitalismus abtun (wogegen man immerhin argumentieren kann, aber auch das kann hier außen vor bleiben), aber die Alternative zum staatlichen Gewaltmonopol ist tatsächlich die Aufgabe eines Rechtssystems, auf das sich jeder einzelne berufen kann (selbst wenn es von einzelnen Gruppen missbraucht und entfremdet wird). Kein taugliches Mittel, das Recht von Schwächeren zu erhalten, sind aber Bürgerwehren, wie sie – unter anderem Namen aber mit demselben Effekt – Katharina Schipowski in der TAZ vom 10. August als Gegenentwurf zur Polizei entwickelt. Das Konzept Schipowskis setzt darauf, dass jeder einzelne die Entscheidung und die Wahl trifft, die für ihn am günstigsten ist. Man müsse also nur Bedingungen schaffen, in denen ein gewaltfreies Handeln für jeden einzenen bessere Resultate erzielt als gewalttätiges. Und für den Rest gibt es Moderatoren.

Es liegt nahe, darauf zu verweisen, dass die Einschätzung, welches Handeln das bessere Resultat erzeugt, indidivuell sehr unterschedllich ausfallen kann. Ziele und Optionen können nicht generalisiert werden. Hinzu kommt, dass man es durchaus schätzen kann, wenn sich jemand von Berufs wegen um den Kram kümmert, den man als Regelverstoß, Kriminialität oder sonstwas bezeichnet. Das entlastet, was dem Schreiber dieser Zeilen als hohes Gut erscheint.

Aber zu zwei weiteren Themen:

Zum einen hat man jeden Grund, den Staat, in dem man lebt, kritisch zu würdigen, zu kontrollieren und ggf. auch zu verändern. Dazu gibt es genug schlechte Erfahrungen mit einem Staat, der sich der Durchsetzung eines Herrschaftssystems und der Unterwerfung seiner Bevökerung gewidmet hat.

Kurt Eisner hat in seinen „Arbeiterfeuilletons“ den Umgang des preußischen Staates mit seinen Untertanen geschildert: Geradezu genüsslich breitet er die Geschichte des preußischen Polizeibeamten aus, der aus einem Betrunkenen, der sich mit einer Straßenlaterne anlegt, eine Straßenschlacht eskalieren lässt, in der Annahme, er habe es mit einem sozialdemokratischen Aufruhr zu tun. Oder die des Berliner Schutzmannes Friedrich Wilhelm Lehmann, der ein zehn- bis elfjähriges Mädchen wegen Störung der öffentlichen Ordnung niederknüppelt, und niemand hindert ihn daran. Immerhin eine Amtsperson, die handelt. Da kann man nicht ungestraft eingreifen.

Oder derselbe Lehmann, der eine 18jährige vergewaltigt, angezeigt wird, aber nicht nur davonkommt, sondern noch dafür sorgt, dass das Mädchen wegen Meineids zu vier Jahren Haft verurteilt wird, ja noch zwei Jahre mehr erhält, weil es gewagt hat, sich kratzend gegen ihn, die Amtsperson, zur Wehr zu setzen. Zu Fall gebracht hat ihn dann erst, dass er sich – nach Bonn versetzt – an einigen Burschenschaftlern vergriffen hat. Das war dann der Amtshandlungen eine zuviel.

Literarisch geht das auch, nachzulesen in Franz Jungs „Die rote Woche“, oder auch -nur als Anmutung – die Schlussepisode aus Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“, in der der mittlerweile heruntergekommene Pinneberg durch einen Wachtmeister von der Auslage eines Delikatessengeschäfts vertrieben wird. Polizei war und ist bis heute auch Teil eines herrschaftsstabiliserenden Apparats. Womit noch nichts schlechtes gesagt ist.

Zum anderen bleibt unbenommen, dass Polizisten immer beides sind, Amtsperson und Privatperson. Die Privatperson haftet im übrigen dafür, wenn die Amtsperson falsch handelt, ansonsten geht sie uns aber nichts an, weil Polizisten einem immer – in der Ausführung ihres Berufs – als Amtspersonen entgegentreten. Allerdings kann man auch hinreichend anständig mit Amtspersonen umgehen; hilft in vielen Fällen. Wenn auch nicht, wenn sie einen gerade niederknüppelt oder auf dem Hals hockt.

Da mag man es als Versagen des Staates verstehen, wenn Polizisten von einem wütenden Mob beschimpft und vertrieben werden.

Man mag es jedoch auch als erstaunliche Entwicklung sehen, dass Polizisten heute – nicht anders als Postbeamte oder Bahnschaffner – in Deutschland hemmungslos beschimpft werden (ja, auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus, um das mal so zu formulieren). Das zeigt nämlich nicht nur die Verrohung der Sitten an (was eine schon ziemlich auftragende Klage ist, die angesichts der Untaten einer angeblich so gesitteten Welt kaum noch zu ertragen ist), sondern auch, dass das Amt, dass die staatliche Verfassung sich nicht mehr über die, die sie betrifft, hinwegsetzen kann.

Staat muss eben auch was aushalten (wie ja auch seine Bürger was aushalten müssen), und wenn irgendwer dabei aus dem Ruder läuft, dann muss er/sie dafür eben die Konsequenzen tragen. Eine Amtsperson attackiert man nicht ungestraft, und eigentlich sollte eine Amtsperson auch niemanden ungestraft, mindestens aber unüberprüft attackieren dürfen.

Nicht die Polizei ist mithin das grundsätzliche Problem, sondern eine Gesellschaft, die sich eine Polizei hält. Erlaubt sie sich, um eine Formulierung Heinrich Manns zu verwenden, sich irgendeiner Autorität zu unterwerfen (das stammt aus „Geist und Tat“, 1911, unerhört lesenswert), dann hat das für alle Beteiligten unangenehme Folgen, nicht nur für die üblichen Verdächtigen.


Hass aus der Mitte

31. Juli 2020

Hass-Mails, Politiker-Bashing, Gewaltexzesse bis hin zur unverhohlenen Morddrohung? Was in den letzten Jahren als Problem der sozialen Medien gehandelt wird, ist ein altes Thema der Massengesellschaften und eben auch der Demokratien, wenn das alles nicht noch älter ist, „Dolch im Gewande“ eben hat ja klassische Traditionen. Das wird an einer Schnittstelle der politischen Geschichte erkennbar und an einer hübschen kleinen Publikation, die ihren Ort in der kleinen Kurt Eisner-Werkausgabe gefunden hat, die seit kurzem bei Metropol in Berlin erscheint.

„100 Schmäh- und Drohbriefe an Kurt Eisner 1918/19“ heißt das Büchlein, das in den Kurt Eisner-Studien immerhin schon den sechsten Band ausmacht. Und siehe, da sind se schon alle da, die, die es gut mit Eisner meinen, ihm mal Wahrheit sagen oder die Meinung geigen wollen, oder die, die ihm unverhohlen den Tod wünschen und androhen. Da sind sie, die Eisner als den landfremden Juden und Bolschewisten beschimpfen, der sich an den edelsten Gütern der deutschen Nation vergangen hat, am Geld, am Militär, am Generalfeldmarschall Hindenburg oder an der deutschen Kriegsschuld. Sehr einschlägig wird das alles, wenn der „stinkische Judenbub“ auch noch zum „dreckigen Stinkpreußen“ hinzuaddiert wird, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen.

Dass solche Briefe in den wenigen Wochen zwischen dem 8. November 1918 und dem 21. Februar 1919, in denen Eisner erster Ministerpräsident des Freistaates Bayern war, aus der „bürgerlichen“, ja „demokratischen“ „Mitte“ versandt wurden, kann niemanden wundern, der die aktuelle Diskussion darüber verfolgt, ob die verbalen Hassausbrüche und Gewaltfantasien in der bürgerlichen Mitte angekommen sind. Es schreiben „Ein Bayer“, „Ein Neutraler“, „Tausende von Bürgern und Soldaten“, ja, sogar „Ein Mann mit Rückgrat“, der freilich nicht mit Klarnamen zeichnet. Bleibt man bei diesen „100 Schmäh- und Drohbriefen“, dann war sie immer schon da.

Die Neigung dazu, den politischen Gegner niederzumachen und ihm den Tod an den Hals zu wünschen, hat sich bereits vor hundert Jahren Bahn gebrochen, und wie man nicht zuletzt am Beispiel Kurt Eisner sehen kann, ist die böse Tat dem bösen Wort bald gefolgt. Was nicht nur den bekennenden Sozialisten Kurt Eisner getroffen hat, sondern eben auch andere Politiker, die vor allem der politisierten und militarisierten Rechten nicht gepasst haben, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, in späteren Jahren Walther Rathenau und Matthias Erzberger. Also kaum etwas Neues unter der Sonne, auch wenn sie mittlerweile in digitalen Welten scheint?

Das ist eigentlich irrelevant, denn auch wenn man amüsiert auf die historischen Hass-Brief- und Postkartenschreiber blicken mag, vergeht einem das Amusement dann doch schnell, wenn man berücksichtigt, was darauf folgte, nicht nur während der Räterepublik, sondern über die kommenden zwanzig Jahre hinweg, bis die sich Bahn brechende Gewaltkultur dann mal eben so einen weiteren Weltkrieg und einen rassistisch motivierten Massenmord anzettelte. Wir können von Glück sagen, dass das vorbei ist, und mit ein bisschen mehr Vernunft, bleibt es auch dabei. Aber, wie wir alles wissen, gibt es genug Leute, die vom nationalistisch grundierten Unwesen immer noch nicht die Nase voll haben.

(Diese Absätze stammen aus einer Besprechung zur Kurt-Eisner-Edition, die bei literaturkritik.de erschienen ist. Der vollständige Text findet sich hier.