Über die Haltbarkeit der deutsch-finnischen Freundschaft

17. August 2020

In der FAZ vom 14. August 2020 warnt der in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, geborene Komponist, Lyriker und Essayist Jüri Reinvere vor dem Desinteresse der Europäer, ja der EU-Nationen aneinander. Jede Nation sei nur an sich selbst interessiert und versuche Vorteile, wenn nötig auf Kosten der anderen zu generieren. Der Frieden auf dem europäischen Kontinent sei eine Fassade. Wer dahinter schaue, sehe das alte Europa der Eifersucht, das Reinvere als unverwüstlich vital kennzeichnet.

Nun könnte man erwarten, dass Reinvere nach einem solchen Auftakt reihenweise Beispiele aus dem endlosen Geschacher der EU-Regierungen aufliste, begonnen bei den Sonderreglungen für die Briten (die ja nun ein Ende gefunden haben), über die Verteilregeln bei der Aufnahme von Flüchtlingsströmen bis hin zu den Klimaschutz-Vereinbarungen. Beispiele ließen sich sicher viele finden, wenn denn politische Auseinandersetzungen in einem derart komplexen Gebilde wie der EU mit dieser Perspektive betrachtet werden sollen.

Aber nichts davon. Reinvere bringt vor allem Beispiele aus dem Alltagsleben, vor allem vom alltäglichen Handeln und Denken und vor allem aus Estland, Finnland und Polen. Ein bisschen England und Deutschland kommt noch hinzu. Aber mehr auch nicht.

Was seine Beispiele sind? Der Reihe nach:

  • Als Reinvere 1989 – wohlgemerkt noch in den UdSSR-Zeiten und lange vor der EU-Mitgliedschaft der baltische Staaten – nach Polen gehen will, warnt ihn eine litauische Freundin vor den Polen, die alles Lügner und Verräter seien. Das ist seine Auftaktgeschichte.
  • 2020, also 30 Jahre später, erzählt ihm eine estnische Freundin, dass sie in Finnland keine feste Stelle als Organistin bekommen könne, weil sie Estin sei und keine Finnin.
  • Reinvere bestätigt diese Erzählung mit eigenen Erfahrungen aus sieben Jahren als Organnist in Finnland (von insgesamt 13 Jahren), in denen ihm immer wieder finnische Organisten, die deutlich schlechtere Musiker gewesen seien, vorgzogen worden seien. Er sei dann immer Ersatz gewesen, habe die anspruchsvolleren Sachen spielen müssen und dafür auch noch weniger Geld bekommen.
  • Ihm sei zudem aufgrund seines estnischen Akzents verboten worden, im finnischen Radio zu sprechen.
  • Allerdings gebe es solche Vorbehalte auch anderherum, nutzten die Esten die Finnen als Touristen, von denen sie kein sehr repsektvolles Bild hätten, doch zynisch aus. Was wohl zeitlich nicht besonders eingegrenzt werden soll.
  • In Frankfurt (Main, ist anzunehmen) habe er die russische Mitarbeiterin einer Buchhandlung sagen hören, dass die Balten „Verbrecher an der großen russischen Nation“ seien.
  • In Polen (anscheinend vor 30 Jahren, was allerdings nicht erwähnt wird) habe er seinen Professor sagen hören, dass der damalige litauische Präsident nie den Friedensnobelpreis bekommen werde, weil die „weltweit vernetzten litauischen Juden“ das verhindern würden.
  • In Deutschland (anscheinend wieder halbwegs in der Gegenwart) habe ein deutscher Vermieter, der ihn irrtümlich für einen Fnnen gehalten habe (aufgrund seines Passes), an die deutsch-finnische Freundschaft im 2. WK erinnert. Der Mann war entweder sehr alt oder ein Neofaschist.
  • Englische Freunde von Freunden hätten ihn im Pub (wann war das?) damit begrüßt, dass ja wohl alle Balten Russkies und Prostituierte seien. Was die Frage erlaubt, welche Erfahrungen diese Engländer mit Balten hatten oder über die Wirkung von Alkohol spekulieren lässt.
  • Als er in Finnland Freunde darauf aufmerksam gemacht habe (vor 2005), dass „viele finnische Männer estnische Frauen“ belästigten, sei das damit abgewiesen worden, dass Finnen keine Rassisten seien. Was wohl heißen soll, dass sie die Frauen als Männer und nicht als Finnen belästigt hätten und ihnen die Nationalität der Frauen egal war?
  • Antisemitismus im Vokabular in Estland sei den meisten nicht bewusst.
  • Die Täterrolle ihrer Länder im 2. WK und bei der Judenvernichtung hätten selbst lettische und litauische Intellektuelle nicht anerkannt.

Das Ganze wird an zwei Stellen als „Rassismus“ gekennzeichnet, was eine zumindest fragwürdige Bezeichnung ist, die für Unterschiede zwischen Finnen und Esten nicht wirklich passt. Finnische Rasse? „Nationale Ressentiments“ wäre vielleicht treffender, der Vergleich mit der „Black Lives Matters“-Bewegung hinkt nicht nur ein bisschen, auch wenn man Vorurteilsmuster nicht unterschätzen darf.

Nach dieser Liste von zeitlich weit auseinanderliegenden Erinnerungen, die zudem in weit divergierende Situationen gehören und zudem kategorial deutlich differenzierten Ereignisgruppen angehören, folgt ein überraschendes Resümee:

  • Die großen Nationen der EU seien an den Verwerfungen in Osteuropa nicht interessiert.
  • Bevölkerungen abseits der Ballungszentren seien an der EU nicht interessiert, sie sei ihnen aufgezwungen worden.
  • Das geeinte Europa sei der Traum urbaner und technikaffiner Wirtschaftseliten.

Was, genau betrachten, mit den Exempeln, die er nur so sprudeln lassen könne, nicht belegen lässt.

  • Die gegenseitigen Ressentiments russischer, baltischer, polnischer und finnischer Leute gehen auf einen lange zurückreichenden Erfahrungsraum, der eben symbolisch höchst aufgeladen ist und dessen Abrüstung wohl noch dauern wird. Was die Russen an dieser Stelle zu suchen haben, erschließt sich nicht.
  • Das dusselige Kneipen-Gerede von Engländern ebenso wie die peinliche Verbrüderung des deutschen Vermieters in Frankfurt ist wohl kaum als Beleg für die Europa-Abneigung der Bevölkerung peripherer Räume anzusehen.
  • Es ist zudem zu bezweifeln, dass es ein „über Jahrzehnte angesammelte(s) alltägliches Desinteresse der EU-Nationen aneinander“ gibt – und in jedem Fall kann man ein solches Desinteresse aus den Belegen nicht ableiten.

Soll am Ende heißen, dass Reinvere anscheinend das Gefühl hat, dass das mit dem Europa nicht so läuft, wie man sich das vorstellt, freundlich, friedlich, mit gegenseitiger Anerkennung, und außerdem hat er da ein paar Erinnerungen, die sich bei dieser Gelegenheit gleich mitabladen lassen und von denen er behauptet, sie stützten sein Unwohlsein.

Nur dass das, was er als Bericht und Argumentation liefert, dieses komische Gefühl nicht untermauert. Denn zum einen liegen die Beispiele zeitlich, kategorial und kontextuell zu weit auseinander. Was haben die Einstellungsusancen in Finnland mit den Belästigungen von etnischen Frauen und der Verweigerung von Intellektuellen zu tun, auch wahrzuhaben, dass ihr Land sich im 2. WK eben auch auf der Täterseite befunden hat? Erst mal wenig, und es wird nicht mehr, wenn mans in einen Topfen wirft und kräftig rührt.

Zum anderen kann und sollte man Alltagsakteure nicht mit Nationen identifizieren. Das Handeln der deutschen Regierung auf europäischer Ebene bekommt man mit dem revisionistischen Geschichtsbild eines anscheinend rechtsextremen Vermieters in Frankfurt nicht wirklich verbunden.

Recht geben kann man Reinvere darin, dass das europäische Projekt – so fehlerhaft auch ist – zwar immer noch einen hohen Wert hat, aber politisch derzeit gefährdet ist. Dass es dem europäischen Raum – bis auf die fatalen Balkan-Kriege – einen bis dahin nie dagewesenen, über Jahrzehnte haltenden Frieden ermöglicht hat, kann man allerdings deutlich stärker herausstellen, als er es hier tut. Nur verstellen vielleicht wirtschaftliche Interessen und politische Altlasten gelegentlich den Blick.


Von Polizisten und Menschen

11. August 2020

Säue müssen durchs Dorf getrieben werden (Eber bestimmt auch, aber das ist eine andere Debatte), so auch die des TAZ-Kommentars vom Juni 2020, in dem vorgeblich die Schreiberin verlangt habe, alle Polizisten auf den Müll zu werfen. Das ist aus Olchi-Sicht eigentlich kein böser Wunsch, aber auch das ist hier nicht Thema, sondern die Frage, wie es diese Gesellschaft mit ihren Polizisten hält.

Dass sie uns angeblich beschützen, kann man wohl grundsätzlich zu den Akten legen, denn was das angeht, kommen Polizisten in der Regel zu spät (nach dem Unfall, nach dem Verbrechen, nach dem Attentat usw.). Es ist auch nicht ihre Aufgabe, den einzelnen zu schützen, auch nicht den Besitz der Reichen, wie gerade noch einmal in einem TAZ-Artikel zu lesen war. Sie sollen stattdessen das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen, weswegen sie in einzelnen Bereichen tatsächlich auch proaktiv tätig sind. Schutz meint denn auch eigentlich vor allem, dass der Rechtsanspruch jedes einzelnen erhalten bleibt und notfalls auch gegen den Staat und die in seinem Namen Agierenden durchgesetzt werden kann und muss.

Nun kann man das staatliche System grundsätzlich als parteiisch, soll heißen als willfährigen Büttel des Kapitalismus abtun (wogegen man immerhin argumentieren kann, aber auch das kann hier außen vor bleiben), aber die Alternative zum staatlichen Gewaltmonopol ist tatsächlich die Aufgabe eines Rechtssystems, auf das sich jeder einzelne berufen kann (selbst wenn es von einzelnen Gruppen missbraucht und entfremdet wird). Kein taugliches Mittel, das Recht von Schwächeren zu erhalten, sind aber Bürgerwehren, wie sie – unter anderem Namen aber mit demselben Effekt – Katharina Schipowski in der TAZ vom 10. August als Gegenentwurf zur Polizei entwickelt. Das Konzept Schipowskis setzt darauf, dass jeder einzelne die Entscheidung und die Wahl trifft, die für ihn am günstigsten ist. Man müsse also nur Bedingungen schaffen, in denen ein gewaltfreies Handeln für jeden einzenen bessere Resultate erzielt als gewalttätiges. Und für den Rest gibt es Moderatoren.

Es liegt nahe, darauf zu verweisen, dass die Einschätzung, welches Handeln das bessere Resultat erzeugt, indidivuell sehr unterschedllich ausfallen kann. Ziele und Optionen können nicht generalisiert werden. Hinzu kommt, dass man es durchaus schätzen kann, wenn sich jemand von Berufs wegen um den Kram kümmert, den man als Regelverstoß, Kriminialität oder sonstwas bezeichnet. Das entlastet, was dem Schreiber dieser Zeilen als hohes Gut erscheint.

Aber zu zwei weiteren Themen:

Zum einen hat man jeden Grund, den Staat, in dem man lebt, kritisch zu würdigen, zu kontrollieren und ggf. auch zu verändern. Dazu gibt es genug schlechte Erfahrungen mit einem Staat, der sich der Durchsetzung eines Herrschaftssystems und der Unterwerfung seiner Bevökerung gewidmet hat.

Kurt Eisner hat in seinen „Arbeiterfeuilletons“ den Umgang des preußischen Staates mit seinen Untertanen geschildert: Geradezu genüsslich breitet er die Geschichte des preußischen Polizeibeamten aus, der aus einem Betrunkenen, der sich mit einer Straßenlaterne anlegt, eine Straßenschlacht eskalieren lässt, in der Annahme, er habe es mit einem sozialdemokratischen Aufruhr zu tun. Oder die des Berliner Schutzmannes Friedrich Wilhelm Lehmann, der ein zehn- bis elfjähriges Mädchen wegen Störung der öffentlichen Ordnung niederknüppelt, und niemand hindert ihn daran. Immerhin eine Amtsperson, die handelt. Da kann man nicht ungestraft eingreifen.

Oder derselbe Lehmann, der eine 18jährige vergewaltigt, angezeigt wird, aber nicht nur davonkommt, sondern noch dafür sorgt, dass das Mädchen wegen Meineids zu vier Jahren Haft verurteilt wird, ja noch zwei Jahre mehr erhält, weil es gewagt hat, sich kratzend gegen ihn, die Amtsperson, zur Wehr zu setzen. Zu Fall gebracht hat ihn dann erst, dass er sich – nach Bonn versetzt – an einigen Burschenschaftlern vergriffen hat. Das war dann der Amtshandlungen eine zuviel.

Literarisch geht das auch, nachzulesen in Franz Jungs „Die rote Woche“, oder auch -nur als Anmutung – die Schlussepisode aus Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“, in der der mittlerweile heruntergekommene Pinneberg durch einen Wachtmeister von der Auslage eines Delikatessengeschäfts vertrieben wird. Polizei war und ist bis heute auch Teil eines herrschaftsstabiliserenden Apparats. Womit noch nichts schlechtes gesagt ist.

Zum anderen bleibt unbenommen, dass Polizisten immer beides sind, Amtsperson und Privatperson. Die Privatperson haftet im übrigen dafür, wenn die Amtsperson falsch handelt, ansonsten geht sie uns aber nichts an, weil Polizisten einem immer – in der Ausführung ihres Berufs – als Amtspersonen entgegentreten. Allerdings kann man auch hinreichend anständig mit Amtspersonen umgehen; hilft in vielen Fällen. Wenn auch nicht, wenn sie einen gerade niederknüppelt oder auf dem Hals hockt.

Da mag man es als Versagen des Staates verstehen, wenn Polizisten von einem wütenden Mob beschimpft und vertrieben werden.

Man mag es jedoch auch als erstaunliche Entwicklung sehen, dass Polizisten heute – nicht anders als Postbeamte oder Bahnschaffner – in Deutschland hemmungslos beschimpft werden (ja, auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus, um das mal so zu formulieren). Das zeigt nämlich nicht nur die Verrohung der Sitten an (was eine schon ziemlich auftragende Klage ist, die angesichts der Untaten einer angeblich so gesitteten Welt kaum noch zu ertragen ist), sondern auch, dass das Amt, dass die staatliche Verfassung sich nicht mehr über die, die sie betrifft, hinwegsetzen kann.

Staat muss eben auch was aushalten (wie ja auch seine Bürger was aushalten müssen), und wenn irgendwer dabei aus dem Ruder läuft, dann muss er/sie dafür eben die Konsequenzen tragen. Eine Amtsperson attackiert man nicht ungestraft, und eigentlich sollte eine Amtsperson auch niemanden ungestraft, mindestens aber unüberprüft attackieren dürfen.

Nicht die Polizei ist mithin das grundsätzliche Problem, sondern eine Gesellschaft, die sich eine Polizei hält. Erlaubt sie sich, um eine Formulierung Heinrich Manns zu verwenden, sich irgendeiner Autorität zu unterwerfen (das stammt aus „Geist und Tat“, 1911, unerhört lesenswert), dann hat das für alle Beteiligten unangenehme Folgen, nicht nur für die üblichen Verdächtigen.


Hass aus der Mitte

31. Juli 2020

Hass-Mails, Politiker-Bashing, Gewaltexzesse bis hin zur unverhohlenen Morddrohung? Was in den letzten Jahren als Problem der sozialen Medien gehandelt wird, ist ein altes Thema der Massengesellschaften und eben auch der Demokratien, wenn das alles nicht noch älter ist, „Dolch im Gewande“ eben hat ja klassische Traditionen. Das wird an einer Schnittstelle der politischen Geschichte erkennbar und an einer hübschen kleinen Publikation, die ihren Ort in der kleinen Kurt Eisner-Werkausgabe gefunden hat, die seit kurzem bei Metropol in Berlin erscheint.

„100 Schmäh- und Drohbriefe an Kurt Eisner 1918/19“ heißt das Büchlein, das in den Kurt Eisner-Studien immerhin schon den sechsten Band ausmacht. Und siehe, da sind se schon alle da, die, die es gut mit Eisner meinen, ihm mal Wahrheit sagen oder die Meinung geigen wollen, oder die, die ihm unverhohlen den Tod wünschen und androhen. Da sind sie, die Eisner als den landfremden Juden und Bolschewisten beschimpfen, der sich an den edelsten Gütern der deutschen Nation vergangen hat, am Geld, am Militär, am Generalfeldmarschall Hindenburg oder an der deutschen Kriegsschuld. Sehr einschlägig wird das alles, wenn der „stinkische Judenbub“ auch noch zum „dreckigen Stinkpreußen“ hinzuaddiert wird, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen.

Dass solche Briefe in den wenigen Wochen zwischen dem 8. November 1918 und dem 21. Februar 1919, in denen Eisner erster Ministerpräsident des Freistaates Bayern war, aus der „bürgerlichen“, ja „demokratischen“ „Mitte“ versandt wurden, kann niemanden wundern, der die aktuelle Diskussion darüber verfolgt, ob die verbalen Hassausbrüche und Gewaltfantasien in der bürgerlichen Mitte angekommen sind. Es schreiben „Ein Bayer“, „Ein Neutraler“, „Tausende von Bürgern und Soldaten“, ja, sogar „Ein Mann mit Rückgrat“, der freilich nicht mit Klarnamen zeichnet. Bleibt man bei diesen „100 Schmäh- und Drohbriefen“, dann war sie immer schon da.

Die Neigung dazu, den politischen Gegner niederzumachen und ihm den Tod an den Hals zu wünschen, hat sich bereits vor hundert Jahren Bahn gebrochen, und wie man nicht zuletzt am Beispiel Kurt Eisner sehen kann, ist die böse Tat dem bösen Wort bald gefolgt. Was nicht nur den bekennenden Sozialisten Kurt Eisner getroffen hat, sondern eben auch andere Politiker, die vor allem der politisierten und militarisierten Rechten nicht gepasst haben, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, in späteren Jahren Walther Rathenau und Matthias Erzberger. Also kaum etwas Neues unter der Sonne, auch wenn sie mittlerweile in digitalen Welten scheint?

Das ist eigentlich irrelevant, denn auch wenn man amüsiert auf die historischen Hass-Brief- und Postkartenschreiber blicken mag, vergeht einem das Amusement dann doch schnell, wenn man berücksichtigt, was darauf folgte, nicht nur während der Räterepublik, sondern über die kommenden zwanzig Jahre hinweg, bis die sich Bahn brechende Gewaltkultur dann mal eben so einen weiteren Weltkrieg und einen rassistisch motivierten Massenmord anzettelte. Wir können von Glück sagen, dass das vorbei ist, und mit ein bisschen mehr Vernunft, bleibt es auch dabei. Aber, wie wir alles wissen, gibt es genug Leute, die vom nationalistisch grundierten Unwesen immer noch nicht die Nase voll haben.

(Diese Absätze stammen aus einer Besprechung zur Kurt-Eisner-Edition, die bei literaturkritik.de erschienen ist. Der vollständige Text findet sich hier.


Kind, Bad

30. Juli 2020

In der FAZ vom 29. Juli 2020 berichten Mona Jaeger und Markus Wehner über die Landnahmebemühungen von Rechtsextremisten in Ostdeutschland, genauer gesagt im Spreewald. Im Zentrum des Beitrags steht das Engagement eines Daniel Grätz in der Ortschaft Burg, wo er eine Gaststätte „Deutsches Haus“ übernommen hat.

Für die politische Position Grätz‘ werden eine Reihe Indizien angeführt, Teilnahme an rechten Demonstrationen, ein T-Shirt einer rechtsradikalen Band zum Beispiel. Grätz wird als „fest verwurzelt in der rechtsextremen Szene im Süden Brandenburgs“ bezeichnet; beide Mitgesellschafter von Grätz‘ Betreibergesellschaft des „Deutschen Hauses“ werden nach dem FAZ-Bericht von den „Sicherheitsbehörden“ der „rechtsextremen Szene in Cottbus und Umgebung“ zugerechnet. Angedeutet wird auch, die Gaststätte könne ggf. zur Geldwäsche genutzt werden.

Es werden noch weitere Hinweise geliefert, im Ganzen aber bleibt lediglich der Eindruck, es hier mit einem Mitglied des rechten, vielleicht auch rechtsextremen Milieus zu tun zu haben, das aber bislang weder offen als Rechtsextremer aufgetreten noch straffällig geworden ist.

Das passt in das Bild einer Szene, die in den letzten Jahren verstärkt in die Öffentlichkeit drängt, nicht zuletzt, weil ihre politischen Ansichten doch deutlich mehr Aussicht auf Akzeptanz haben als noch vor 20 Jahren. Und einen Legalitätskurs zu fahren, hat sicherlich strategische Vorteile (was bereits einmal bewiesen wurde).

Die Frage bleibt aber, wie eine kritische Öffentlichkeit damit umgehen soll und will. Und hier kommen Zweifel an der Quellenlage des FAZ-Berichts, denn er arbeitet im wesentlichen mit Vermutungen und Informationen zweiter Hand. Außerdem dräut er an verschiedenen Stellen, was Unheil nahelegt, aber eben nicht belegt.

Was zur Konsequenz führt: Selbst wenn man annehmen kann, dass Grätz‘ tatsächlich zum rechtextremen Spektrum gehört, zumindest gehört hat (die Ausrede mit den Jugendsünden lassen wir mal beiseite), erlaubt weder der gesicherte Wissensstand noch das vom FAZ-Bericht zusammengestellte Profil, eine massive Intervention; etwa der ortsansässigen Sparkasse nahezulegen, sie hätte ihn die Finanzierung beim Immobilienerwerb verweigern sollen.

Was wäre, wenn sich unser liberales System – das ich, wie hier dann doch einzuwerfen ist, sehr schätze – in ein autoritäres wandeln würde, in dem eine linksliberale oder linke politische Position – oder auch nur die Annahme, es mit einem solchen Antragsteller zu tun zu haben – nicht mehr akzeptiert würde? Würden dann etwa Projekte von Leuten aus diesem Milieu nicht mehr finanziert? Und wäre das dann legal oder auch nur legitim? Wo ist die Grenze eines legitimen Widerstands gegen die rechte Landnahme hin zur Aufgabe liberaler Prinzipien, zu denen auch die relative Neutralität der öffentlichen Hand gehört?

Das heißt eben nicht, dass sich Gemeinden oder andere öffentliche Institutionen mit rechtsextremen Strategien nicht auseinandersetzen und sich der Übernahme öffentlicher Räume nicht widersetzen sollen. Immerhin berichten die beiden Verfasser des FAZ-Berichts vom 29. Juli davon, dass eine andere Gemeinde in einem vergleichbaren Fall ihr Vorkaufsrecht ausgeübt hat. Das heißt auch nicht, dass eine kritische Öffentlichkeit die einzelnen Maßnahmen von Rechtsaußen unberührt hinnehmen soll und muss.

Das heißt nur, dass ein Bericht wie in der FAZ wohl kontraproduktiv ist. Er mag zwar in der Haltung sympathisch sein, aber in der Wahl seiner Mittel spielt er eben denen in die Hand, die politische und öffentliche Akzeptanz suchen, weil sie ein autoritäres Regime durchsetzen wollen: Das liberale System offenbart damit vorgeblich illiberale Seiten, worauf dann die ganze Litanei von Gesinnungsschnüffelei, man kann nicht mehr sagen was man denkt etc. folgt (was, wie wir wissen, nicht stimmt, man muss nur das Echo vertragen können). Das braucht keiner.


Rächerin Natur?

30. Januar 2020

Wiebke Hüster berichtet in der FAZ vom 30. Januar 2020 über Wölfe, die in der immer wieder aufkeimenden Stadt-Land-Debatte eine Rolle spielen: Naturschützende Städter wollen Wölfe, die Lasten haben die Landbewohner zu tun, die ja eben immer alles ausbaden müssen, was in der Stadt ausgeheckt wird. In diesem Fall fressen ihnen die Wölfe die Schafe oder auch die Jagdhunde weg. Die Frage, ob Wölfe in Deutschland einen Platz haben, ist anscheinend wichtig genug, eine ganze Seite in einer renommierten Tageszeiteung dafür zu reservieren.

Naheliegend, dass im Untertitel des Artikels mal wieder davon die Rede ist, dass die „Diskussion über das heimische Raubtier“ „das Land“ spalte (hier als Gesellschaft gemeint, oder als Minimalversion: da gibts Streit drum). Was zu der Frage führt, warum gleich jede strittige Frage wie ein Spaltblitz ins vormals so einige deutsche Vaterland fährt. Irgendetwas muss da gewaltig in Unordnung sein.

Weder das eine noch das andere noch das weitere sei hier diskutiert, aber ein Hinweis auf eine irreführende Formulierung gegeben, weil es sich wahrscheinlich beim Schreiben so schön angefühlt hat, aber trotzdem nicht stimmt: Die Natur rächt sich nicht. Dass jemand an einem Rehknochen erstickt, den er sich vielleicht zu hastig in den Rachen geschoben hat, ist unschön, aber keine „Rache“ der Natur. Natur „rächt“ sich auch nicht für Raubbau oder wahlweise Zivilisation.

Frau Hüster entnimmt die Geschichte vom grässlichen Tod des Rehfressers einem Roman der polnischen Autorn Olga Tokarczuk. Weiter im Text ist auch davon die Rede, dass sich Rehe dafür rächen, dass „ihre Art mit unethischen Methoden gejagt und getötet“ werde. Was die nächste Frage aufwirft, nämllich danach, was denn ethische Jagd- und Tötungsarten wären. Mal davon abgesehen davon, dass sich eine „Art“ nicht rächt.

Der Roman, den Hüster gelesen hat, mag eine hübsche Geschichte sein, aber eben nur eine Geschichte. Man soll sie auch das bleiben lassen, oder wenigstens die angemessenen Übertragungsleistungen abliefern, die bei der Lektüre und Anwendung von Geschichten notwendig sind. Also was ist mit den Rehen und den Jägern gemeint? Und worauf will sie hinaus? Was soll uns was lehren?

Amüsant immerhin das Bedauern Hüsters, dass die Romanheldin „lieber Rehe als Täter und Männer als Opfer“ sehe.