Ein gelbes Tier mit schwarzen Flecken

Stefan Börnchen schreibt Flix‘ neuem Marsupilami-Band die Antwort auf beinahe alle Fragen zu

15. März 2023

In der FAZ vom 25.10.2022 hat Stefan Börnchen eine beeindruckte Besprechung von Flix‘ neuem Comicband zum Marsupilami veröffentlicht (Das Humboldttier, Hamburg: Carlsen 2022), der das merkwürdige gelbe Wesen, das anscheinend aus Südamerika stammt und beeindruckende schwarze Flecken und einen, ich glaube, acht Meter langen Greifschwanz trägt, ins Berlin des Jahres 1931 versetzt. Das ist nicht das erste Mal, dass die Marsupilami-Geschichte neue Varianten erhält. Aber ein fiktionaler Kosmos verträgt viele Widersprüche, es muss auch nicht alles zusammenpassen, das sollte man alles nicht zu eng sehen. Ein Jahr vor Flix hat etwa das Gespann Zidrou und Frank Pé den ersten Band einer Folge herausgebracht (Die Bestie 1, 2021, gleichfalls bei Carlsen), in dem das Marsupimali dieses Mal das Belgien der Nachkriegszeit unsicher macht. Denn darauf kommt es an. Egal wohin das Marsupilami versetzt wird, es macht immer Aufsehen und stellt die Verhältnisse auf den Kopf, wobei es offensichtlich durchaus zwischen angenehmen und unangenehmen Zeitgenossen zu unterscheiden vermag.

Stefan Börnchens Besprechung ist selbst wiederum beeindruckend, Börnchen sieht genau hin, weist auf unauffällig zeichnerische Verweise hin, die Flix in seinen Band einbaut – Referenzen an die Großen seines Fachs, an Art Spiegelmans „Maus“ etwa oder an Hergés „Tim in Tibet“. Alles das, wie auch die zeittypischen Themen wie Antisemitismus, aufkommender Nationalsozialismus, autoritäre Haltungen – will sagen Blockwartstypen – im preußischen Berlin oder eben auch die Problematik der kolonialen Aneignung (dieses Mal am Beispiel des Humboldtschen Sammeleifers, der seinen künftigen Präparate schon mal ganz sanft das Genick bricht) wird bei Flix, so Börnchen zurückhaltend, ja leise behandelt. Das kann man loben, wie auch die narrative Komposition von kultureller Appropriation mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in einer der interessantesten urbanen Zentren des frühen 20. Jahrhunderts.

Dem sei genauso wenig widersprochen wie dem Lob, das Börnchen Flix ausspricht. Freilich steht Börnchens Besprechung unter einer theoretischen Annahme, die er gleich zu Beginn mit Bezug auf eine Publikation von Michael Rothberg formuliert und die, recht knapp, auf die Formel der Konkurrenz von Dekolonialisierung und Holocaustgedenken bringt.

Hintergrund dieser Konkurrenz ist die Kritik postkolonialer Intellektueller und Gruppen am Staat Israel und dessen Palästina-Politik, in der eine Fortsetzung kolonialen Handelns gesehen wird. Sie mit dem Verweis auf die Traditionen von Antisemitismus, mithin als antisemitisch zurückzuweisen, ist inhaltlich solange kaum plausibel, als die Kritik am staatlichen Handeln sich von antisemitischen Mustern fernhält. Was seine Politik angeht, ist der Staat Israel nicht sakrosankt. Etwas anderes ist es, wenn die Kritik Israels sich antisemitischer Muster bedient. Die Formen der Kritik, wie sie etwa bei der Documenta 15 bekannt gemacht wurden, berühren diese Grenze zumindest. Dass die Diskussion darüber in Deutschland schnell an ihre Grenzen kam, ist angesichts der deutschen Geschichte kaum verwunderlich. Und es gibt gute Gründe vorzubringen, dass es in Deutschland dafür andere Sensibilitäten gibt als anderswo. Selbst postkoloniale Autoren wie Achille Mbembe geraten mit ihrer Kritik Israels selbst wieder in die Kritik, was nicht zuletzt zeigt, in welchem schwierigem Gelände man sich hier bewegt.

Börnchen nun sieht in Flix‘ Kombination der Humboldtschen Vorgeschichte des Marsupilami mit dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft um 1931 einen Versuch, die Konkurrenz beider gesellschaftskritischer Ansätze aufzuheben und sie beide fruchtbar zu machen – was grundsätzlich zu begrüßen ist. Denn trotz der anscheinend unauflöslichen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis ist der Widerspruch zwischen Dekolonialisierungsanspruch und Ächtung des Antisemitismus nicht essentiell.

Allerdings bleibt zu fragen, ob Börnchens Belege zu mehr reichen, als einen sehr subtilen Subtext des Bandes zu konstatieren, der durch ein Hauptnarrativ überdeckt wird, das wiederum an das anarchische Grundnarrativ der Marsupilami-Figur gebunden ist.

Um den Subtext zu identifizieren, macht Börnchen einige Hinweise des Textes stark, die jedoch einem weniger aufmerksamen Leser schnell entgehen. So sei die Familie der kleinen Mimmi zweifellos jüdisch, wie ihr Name (Löwenstein), der siebenarmige Leuchter aus dem Küchentisch und ein Davidstern am Fenster zeigten. Allerdings findet sich auf dem Küchentisch neben der Menora zudem noch ein Kerzenständer, der als Weihnachtsengel gelten kann.

Der siebenarmige Leuchter oben links, links daneben der Kerzenständer. Die Seraphim gibts anscheinend im Judentum und im Christentum (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Und auf der Seite, auf der sich die Zeichnung mit dem sechszackigen Stern findet, wird – im übrigen deutlich auffälliger – die Zeichnung einer Fotografie gezeigt, auf der Mimmi samt Mutter und dem abwesenden Vater (tot? abgehauen?) unter dem Weihnachtsbaum und vor einer Krippe zu sehen sind.

Im Bild oben rechts am Fenster unscheinbar, ein sechseckiger Stern. Unten in der Mitte das Familienfoto unterm Weihnachtsbaum. Nebenbei die üble Nachbarin mit nicht minder übler Nachrede oben links. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Die Familie ohne weiteres also als jüdisch zu kennzeichnen, ist mit diesen Hinweisen wohl zumindest nicht zwingend; es bleiben Widersprüche. Der stärkste Hinweis ist allerdings die Beschwerde einer der Nachbarinnen über das „Judenkind“, das nicht nur die saubere Treppe einsaut, sondern auch noch dem freundlichen Blockwart des Hauses (naja, es wird wohl der Hausmeister sein) die Zunge rausstreckt. Aber diese üble Nachrede ist im Band bewusst sehr klein geschrieben (siehe unten rechts), muss also halbwegs mit der Lupe gelesen werden. Und als üble Nachrede ist sie auch nicht wirklich belastbar.

„Es sind immer die Juden“ – hier sehr klein gehalten das Gerede der miesen Nachbarinnen. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Was auch hier heißen soll, dass Flix die Kritik am Humboldtschen Sammelwahn durchaus wahrnehmbar formuliert, das Thema Antisemitismus aber eher im Hintergrund mitlaufen lässt, während er die Fortführung der anarchischen Wirkung des Marsupilami auf das preußische Berlin in den Vordergrund stellt.

Nimmt man solche Einwände ernst, dann ist die These Börnchens deutlich weniger tragfähig, als es einem lieb sein kann, denn an der Vereinbarkeit beider politischer Linien, der Entkolonialisierung der westlichen Gesellschaften und der Ächtung antisemitischen Gedankenguts sollte es eigentlich keinen Zweifel geben, auch nicht daran, dass Flix sich dieses Themas im Hintergrund annimmt. Aber eben im Hintergrund, was den Anspruch an seine Leser deutlich erhöht – schaut genau hin. Und dennoch nicht von der Hauptlinie des Bandes ablenken sollte, dass nämlich auch eine urbane Gesellschaft wie dieses Berlin der frühen 1930er Jahren ein gerütteltes Maß an anarchischer Energie hätte vertragen können. Und dass die Sammelleidenschaft der beginnenden modernen Gesellschaft ihrerseits grenzwertig ist.