Theater-Helden der Moderne

26. Juli 2010

In „Die Zeit“ vom 8. Juli attackiert Peter Kümmel die heutige Inszenierungspraxis als oberflächlich und nichtssagend. Die Regisseure und Ensembles präsentierten Textmassen, keine Stücke, statt zu spielen, erzähle das Theater. das Kollektiv sei zudem an die Stelle der repräentativen Figur getreten. Grund sei wohl, dass die geellschaftlichen Umstände zu komplex geworden seien, als dass Individuen hier Gestaltungmacht zugewiesen werden könne.

Merkwürdiger Weise kritisiert Kümmel diese Praxis nicht dafür, dass sie langweilen oder dass sie keine Erkenntnis schaffen, sondern mit ihrer angeblich mangelnden „Tiefe“. In jenem platonischen Zwischenreich zwischen Bewegung und Ruhe erst lebe das Theater wirklich. Erst indem das Theater Figuren erschaffe, könne es wirklich zu sich selbst kommen. Referenzen dieser Position: Platon, Goethe, Schiller, Andersen – und das Erzählkino. Der Mann, mit dem das alles begann: Max Reinhardt.
Kein Wort von Brecht, kein Wort von der sprachkritischen Position des Theaters heute, kein Wort von Performance. 

Große Gefühle, große Figuren, große Heldinnen und Helden der Moderne, die bereits die Antike geschaffen hat (Medea, wer sonst, als Beispiel). So als ob seitdem nichts geschehen wäre und das Theater nur als „Große Gefühlsanstalt“ Existenzberechtigung hat und eben nicht als Erkenntnis produzierende Institution, die auch noch unterhalten darf.

Wenn das Theater heute aber Kritik verdient oder wenigstens Korrektur, dann hierbei. Denn die vorbeiziehenden und teils beeindruckend inszenierten Texte sind eben manchmal eben nur noch langweilig, machen nicht einmal Spaß und provozieren eben keine Wahrnehmung oder Erkenntnis. 

„Große Gefühle“, „Große Augenblicke“, Heldinnen und Helden – was sollen sie statt dessen? Erheben und zugleich Versenkung ermöglichen. Wenn das nicht peinlich ist.


Demografischer Zynismus

16. März 2010

In der FAZ von Montag, dem 15. März 2010 publizierte der Soziologe Gunnar Heinsohn einen Essay, in dem er einen radikalen Wandel in der Sozialpolitik anmahnte. Die Alimentierung der sozialen Unterschichten und insbesondere von Nachwuchs führe nur dazu, dass sich Armut reproduziere, aus dem einfachen Grund, dass Kinder für Arme Kapital seien. Kinder von Armen, deren Bildungsgrad zudem gering sei, würden jedoch in einen Reproduktionszyklus eingespeist, der wiederum Armut, geringen Bildungsgrad und Nachwuchs, zudem auch noch Kriminalität etc. fördere. Die Sozialpolitik führe auch dazu, dass nicht gebildete und leistungsstarke Einwanderer nach Deutschland kämen, sondern wiederum nur bildungsferne, arme und leistungsschwache Gruppen.
Die Alternative: Zeitliche Begrenzung der Alimentierung auf 5 Jahre wie in den USA, was dazu führe, dass die ärmeren Schichten Kinder nicht mehr als Kapital ansähen, da sie nach 5 Jahren zum Überlebensrisiko würden. In den USA sei das erfolgreich praktiziert worden – ein System, das im Übrigen der Linksliberale Bill Clinton eingeführt habe.
Freilich, so einfach radikal wird das Ganze nicht funktionieren, zumal Heinsohn seinen Essay perspektivisch stark zurichtet.
So betont er, dass gebildete und wohlhabende Schichten sich heutzutage auf ihr persönliches Fortkommen konzentrierten und die Reproduktion deshalb nachrangig werde. Das gelte für Männer wie Frauen.
Das ist soweit korrekt, allerdings koppelt er das von den Ursachen weitgehend ab, denn für die Fokussierung auf das eigene Leben ist nicht Wohlstand an sich verantwortlich, sondern die ungesicherten individuellen Perspektiven in der Wohlstandsgesellschaft. Das verschiebt die Realisierung von Kinderwünschen und anderes auf einen Zeit nach der Konsolidierung der Lebensperspektiven, die aber allzu oft nicht realisierbar ist. Prekarität der Lebensperspektiven ist freilich eine Konsequenz der Verflüchtigung aller gesellschaftlichen Institutionen und der Individualisierung von Lebensplanung. Vor- und Nachteil eben der individuellen Freiheit.
Das scheint Heinsohn akzeptieren zu wollen, denn als Ausweg sieht er nur die Zuwanderung von gebildeten etc. Allochthonen  bei Beschränkung der Reproduktion der ärmeren Sozialschichten. 
Ist allein das schon von einer erstaunlichen zynischen Offenheit, vermeidet Heinsohn den Blick auf die Teile der sozialen Unterprivilegierten, die nicht auf die geänderte Alimentierung reagieren oder reagieren können und nach 5 Jahren aus dem Sozialraster fallen. Mit anderen Worte, er liefert diese Gruppen ihrem Schicksal aus, Sozialmüll, der sehen muss, wie er durchkommt?
Dass er nebenbei das Motiv gesellschaftlicher Verantwortung für Kriminalität als einen der Gründe nennt, die die Armutsreproduktion weiter anheize, stützt die merkwürdige Schlagseite seiner These und den radikalen Individualisierungeffekt, den sein Vorschlag nach sich ziehen würde. 
Eine reine Alimentierung hat dabei möglicherweise die Konsequenzen, die Heinsohn vermerkt. Sie ist demnach auch keine realistische Alternative (was die Diskussion um garantierte Grundeinkommen die Basis entzieht). Außerdem degradiert die Alimentierung ihre Empfänger, sie macht eben auch würdelos. 
Das Grundprinzip der rot-grünen und später der schwarz-roten Regierung, zu fördern und zu fordern scheint hingegen ein Ausweg aus dem Dilemma zu sein, das Heinsohn skizziert. Sie ist jedenfalls weder so zynisch, wie sein Vorschlag, noch so ignorant wie die Diskussion um den Hartz IV-Missbrauch.
Hinzu kommt, dass eine Gesellschaft, die in ihrem Grundverständnis Kinder zum Risiko macht und Eltern in der Versorgung von Kindern (Kindertagesstätten, Kindergärten etc.) und in ihrer Lebens- und Karriereplanung mehr oder weniger allein lässt, sich nicht wundern darf, dass Kinder eben ausbleiben. Kinder wie Menschen generell nicht zum Risiko, sondern zur Selbstveständlichkeit zu machen, bleibt hingegen eine Anforderung sozialer Verantwortung. Ein offener Posten.


It’s about what people need

16. Februar 2010

Die FAZ von heute berichtet auf der Wirtschaftsseite und im Feuilleton über den Content-Anbieter „Demand Media“, der auf der einen Seite wirtschaftlich erfolgreich ist (was die Wirtschaftsleute erfreut), auf der anderen Seite beklagt das Feuilleton, dass „Demand Media“ das Netz mit Infoschrott zumülle. Außerdem würden die Zulieferer arg schlecht bezahlt.
Nun wird man solche Phänomene (Contentlieferanten, die sich dezidiert mit dem beschäftigen, was die Leute an Infos brauchen; die Sendung mit der Maus wirds freuen oder auch nicht) nicht wegdiskutieren können. Und gelegentlich ist es hilfreich, wenn man schnell rauskriegt, wie man die Klospülung wieder frei kriegt. 
Auch greift das Argument nicht, dass – wer sich auf solche Infos und Medien verlasse – das Denken aufgebe (das möchte ich sehn, sobald das Klo verstopft ist). 
Problematisch ist am Konzept von „Demand Media“, dass Wissenschaft und deren Informationsbeschaffung von solchen Tendenzen bedroht sein können, nämlich dann, wenn man von ihr fordert, nur noch oder vorrangig das zu erschließen, was die Leute wollen. Niemand wird Wissenschaft von Notwendigkeiten freisprechen, spätestens aber die Ausstattung der Grundlagenforschung sollte davon ausgeklammert sein. Und zwar grundsätzlich – was insgesamt vielleicht unnötige Bemerkungen sind.


Netznaivität

9. Februar 2010

Der Medienwissenschaftler Jeff Jarvis hat im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen (FAZ 26.1.2009) hervorgehoben, dass das „Angebot an Inhalten im Netz“ „sehr schnell“ wachse: „Die Herausforderung besteht darin, die guten Inhalte zu finden. In aller Welt überbordender Inhalte verlagert sich die Wertschöpfung zu demjenigen, der die Nachrichten filtern, die guten Inhalte finden und in einen Kontext einordnen kann.“
Dem Herrn ist zuzustimmen, bis auf einen Punkt, der eigentlich eine Frage ist: Wie kommt Jarvis auf die Idee, dass die mit den Inhalten im Netz auch die guten Inhalte wachsen? Ohne Prinzipien wie die Wikipedias überhaupt nur ansatzweise kritisieren zu wollen: Seit Jahren werden Projekte, die qualitativ hochwertige Inhalte systematisch und auf breiter Front aufarbeiten wollen, kurzgehalten, während die Contentmanager sich erfolgreich vermarkten können. Im Buchsektor war der Saur-Verlag über Jahrzehnte mit diesem Prinzip sehr erfolgreich. Und gegen Projekte wie das Gesamtverzeichnis ist nichts auszusetzen. Wenn denn nicht die wenigen zarten Ansätze etwa in der literaturwissenschaftlichen Lexikographie dahinter hätten zurückstehen müssen.
Es wird, was das angeht, ein Neuansatz nötig sein.


Taugliche Krimis des Jahres 2009

10. Januar 2010

Ross Thomas: Am Rand der Welt. Ein Artie-Wu-undQuincy-Durant-Fall. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Behrens, bearbeitet von Gisbert Haefs und Anja Franzen. Mit einem Nachwort von Thomas Wörtche. Alexander Verlag, Berlin 2008.

Heinrich Steinfest: Mariaschwarz. Kriminalroman. Piper, München, Zürich 2008.

Zoran Drvenkar: Sorry. Thriller. Ullstein, Berlin 2009.

Kathryn Miller Haines: Miss Winters Hang zum Risiko. Rosie Winters erster Fall. Aus dem Amerikanischen von Kirsten Riesselmann. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009.

Fred Vargas: Der verbotene Ort. Roman. Aus dem Französischen von Waltraud Schwarz. Aufbau, Berlin 2009. 

Jörg Juretzka: Alles total groovy hier. Kriminalroman. Rotbuch, Berlin 2009.

Alles selbst gelesen, alle besprochen bei www.literaturkritik.de, keine Rangfolge. Dieses Jahr wird sicher besser und vor allem mehr.