Lückenfüller 2

29. September 2017

Es ist eine anscheinend immer wieder nachwachsende Sitte, in Dissertationen die Vernachlässigung der eigenen, selbstverständlich höchst relevanten Fragestellung zu beklagen, ein Versagen der Forschung zu attestieren und ein eklatantes Forschungsdesiderat auszurufen. Im Gegenzug  wird naheliegenderweise die Aufarbeitung aller terminologischen und sachlichen Defizite angeboten, gern auch verbunden mit einem – kaum abzulehnenden – Vorschlag zur begrifflichen Neufassung. 

Die Gründe für ein solches Verfahren sind relativ leicht nachzuvollziehen: Die Promotionsordnungen verlangen in der Regel einen nachvollziehbaren Forschungsfortschritt, die Promovenden wollen sich mit ihrer Arbeit, auf die sie unerhört viel Zeit, intensive Studien und weit ausholende Überlegungen investiert haben, einen guten Ausgangspunkt für ihre weitere wissenschaftliche Karriere schaffen. 

Der im Standarddesign von Abhandlungen immer wieder geforderte Forschungsbericht fördert solche Eigentümlichkeiten, weil – unausgesprochen – an dessen Ende immer das Desiderat stehen muss, dessen sich der Autor der Studie – man ist versucht zu schreiben: selbstlos – im Folgenden annehmen wird.

Nun ist es keine Frage, dass es in der Forschung jedes Faches Lücken gibt, die mit Fug und Recht zu schließen sind, und es wäre ignorant zu leugnen, dass diese Lücken nicht ursächlich mit den Methoden, allerdings auch Moden eines Faches zusammenhängen. Man möge sich nur die Abfolge von Hermeneutik, Strukturalismus, Poststrukturalismus, Sozialgeschichtsschreibung, Ideologiekritik, Ästhetik und diversen „turns“ vor Augen halten. 

Dennoch, etwas weniger „Desiderat“, dafür etwas mehr Bescheidenheit täten aber den Dissertationen und ihren Autoren ebenso gut wie deren Lesern. Oder auch die Einsicht, dass in einer diskursiven Wissenschaft, wie es die Literaturwissenschaften sind, weniger Desiderate denn neue Durchsichten abweichende Ergebnisse, soll heißen Perspektiven ergeben.


Fantasielosigkeit

8. September 2017

Die englische Jugendbuchautorin Meg Rosoff hat in einer Rede, die am 7. September 2017 in der FAZ abgedruckt wurde, dafür plädiert, dass die britischen Behörden nicht einseitig naturwissenschaftliche oder betriebswirtschaftliche Fächer bewerben. Deren Relevanz zu betonen, beruhe auf einem tiefgreifenden Irrtum unter anderem darüber, woher auch in solchen Fächern Innovation und Kreativität stamme. 

Stattdessen solle man sich mehr vor Augen halten, dass die Welt im  weitesten Sinne auf Geschichten beruhe und dass der, der sich mit solchen Geschichten beschäftige, mehr von Welt erfahre als der, der sich dem verweigere. 

Sie bezieht sich dabei auf die Warnung Richard Dawkins‘, der gemeint habe, dass die meisten Märchen einer genaueren Untersuchung nicht stand halten würden. Was – bei näherer Betrachtung – ein sinnloser Satz ist. Es kann natürlich sein, dass er falsch übersetzt worden ist und gemeint ist, dass Märchen bei genauerer Betrachtung keine vernünftigen Botschaften oder Lehren beinhalten. Oder so etwas ähnliches.

Wenn das aber so gemeint ist, dann muss man Dawkins leider attestieren, dass er keine Ahnung von Märchen hat. Dass deren Anwendbarkeit in einer komplexen Gesellchaft wie der heutigen sich möglicherweise geschmälert hat, bleibt davon unbeeinflusst. In der Gesellschaft, in der sie entstanden sind, haben sie hingegen einen großen Anwendungscharakter, auch wenn man gelegentlich zweimal hinschaun muss, um ihn zu sehen.

Nun muss man sich allerdings auch fragen, wieso nun gerade Märchen für das Thema Kreativität herhalten müssen, da nun gerade sie sich ja keineswegs einem spielerischen Umgang mit Welt resp. Fiktion verdanken. Sie sind metaphorische Erzählungen. Das, was wir heute unter angewandter Kreativität verstehen, hat sich davon allerdings mittlerweile weit entfernt. Um nicht zu sagen, dass alle Genres von der Art „Harry Potter“ bloß den Bodensatz von Kreativität anzeigen, während deren Hauptspiel auf einer ganz anderen Ebene stattfindet.

Aber damit sei Frau Rosoff keineswegs widersprochen: Storytelling und die Lektüre von Geschichten gehören zu den wichtigsten Verfahren, Welt zu verstehen, die wir heute haben. Und das nicht nur seit dem „narrative turn“. Das wusste etwa schon ein Dieter Wellershoff um 1970.

Im übrigen setzt Frau Rosoff zur Sicherung ihrer These ein abgesunkenes Märchen von einem Mädchen ein, das sich in ein Haus verirrt, das Bären gehört, vom Brei der Bären nascht, in einem ihrer Bettchen schläft und schließlich von ihnren gefressen wird. Naheliegend ist das Haus nur ein Loch, der Brei sind verwesende Hasenreste und das Bett ein von Bärenkot stinkender Blätter- und Reisighaufen. Kein Wunder, dass das Kind gefressen wird, auch wenn es Goldlöckchen heißt. Aber ganz im Ernst, so, wie Frau Rosoff diese Geschichte erzählt, gefällt sie mir besser als in der angeblich kreativen Variante. Vor Bären und Märchenerzählern soll also gewarnt sein. Gerade wenn sie vor Märchen warnen.


Glaubensbrüder

3. Juli 2017

In der FAZ vom 21.6.2017 plädiert der Philosoph Thomas Grundmann (Universität zu Köln) für die Restituierung der Autorität von Fachleuten. Anlass ist für ihn der massive Vertrauensverlust von Wissenschaft im Kontext des Aufstiegs populistischer Parteien und Bewegungen. Ein amerikanischer Präsident, der den Klimawandel leugnet? Was anderen Wissenschaftsskeptikern neuen Auftrieb gegeben hat.

Aber auch in anderen Bereichen sieht Grundmann einen massiven Bodenverlust von Wissenschaft. Den Grund dafür sieht er in einem konzeptionellen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Politik. Wissenschaft sei der demokratischen Kontrolle entzogen. Würde man die Spielregeln der Demokratie auf die Wissenschaft übertragen, würden nämlich „Wissensautoritäten generell untergraben“ – man höre und staune. Ein „verantwortliches Denken“ jedoch müsse „echte Autoritäten und erkenntnistheoretische Asymmetrien anerkennen, sonst“ verspiele es „im Namen kritischer Vernunft seine eigene Urteilsfähigkeit“.

Sind diese Thesen schon abenteuerlich, wird Grundmann absurd bei den didaktischen Konsequenzen, die er aus ihnen zieht. 

1. So schreibt er eine Absage an die „populistische“ Forderung nach Allgemeinverständlichkeit. 2. Man möge doch bitte an den Schulen nicht mehr das „Idealbild eines unbegrenzten kritischen Selbstdenkens“ zeichnen. Bildung solle 3. wieder das „Vertrauen in zuverlässige Autoritäten und in für Kritik offene Expertensysteme“ stärken. 4. Die Politik solle der Wissenschaft keine „demokratisch legitimierten Zielvorgaben“ machen und 5. solle man darüber nachdenken ob es nicht „instituionell verankerte Mitwirkungsrechte von Experten in allen politischen Gremien“ geben müsse.

Man kann schon froh sein, dass Grundmann nicht von Mitbestimmungs- oder gar Vetorechten spricht, was einer „zuverlässigen Autorität“ ja eigentlich zustände. 

Dass Wissenschaft in großem Maße unzuverlässig und diskursiv ist, scheint Grundmann fremd zu sein (und das einem Philosophen), vielleicht aber auch nur lästig und unangenehm, wie meinem Hausarzt, der auch bedauert, dass die Medizin keine Wissenschaft sei, weil sie eben nicht präzise genug ist. Das Abenteuerliche an grundmanns Überlegungen ist, dass er eine – wie er mit einem Blick auf Wissenschaftstheorie leicht nachvollziehen könnte – iterative und interpretationsbedürftige zugangsweise zu Realität, deren Auswirkungen auf Gesellschaft unerhört groß geworden ist, der Kritik und der Entscheidung der Nicht-Fachleute entziehen will. 

Kind also raus aus dem Bad: Niemand wird in Zeichen von „Fake-News“ an der Dringlichkeit zweifeln, dass Gesellschaft Konsens über Verfahren, Methoden und Zugangsweisen zu dem, was man Fakten nennt, sprechen muss. Aber es wäre angesichts eines seriösen Zugriffs, wie ihn etwa der radikale Konstruktivismus auf „Realität“ bietet, auch unsinnig so zu tun, als ob das Gegenteil zu einer ungesicherten Wahrheit deren Behauptung wäre, die qua Autorität gesichert wird.

Es wäre auch fatal, statt eines unendlichen und riskanten diskursiven Prozesses neue Autoritäten zu etablieren. Fatal für eine offene wie eine demokratisch legitimierte Gesellschaft. Sie lieferte sich damit einer unkontrollierten und unzugänglichen Autorität aus, die Zuverlässigkeit behaupten muss, aber kaum belastbar sichern und bestätigen kann.

Im übrigen hat Armin Nassehi, „nur“ ein Soziologe (Universität München), in einem Beitrag in der FAZ vom 28.6.2017 dagegen gehalten und dafür plädiert, von der Wissenschaft zu lernen, dass es „stets unterschiedliche Versionen“ einer Sache gibt. Dem gibt es viel hinzuzufügen, was diese These bestätigt.


Vergiftetes Lob?

27. Juni 2017

In der FAZ vom 26.6. hat Christian Geyer Peter Sloterdijk einen Glückwunsch zum Siebzigsten geschrieben, der es in sich hat. Mit anderen Worten, man weiß nicht so recht, wie man das Stückchen Journalismus lesen soll: als illuminiertes Textständchen oder als bitterböse Satire.

Das beginnt bereits mit dem Auftakt, in dem auf Sloterdijks Laudatio auf Helmut Kohl als „Vorsprung durch Geistesgegenwart“ hingewiesen wird. Wobei dies für einen Zeitgenossen des jüngst verstorbenen Altkanzlers eine erstaunliche Assoziation ist. Da dachte man doch eher an Erinnerungslücken oder an Lösungen durch Aussitzen.

Nun wird man Sloterdijk nicht vorwerfen können, wenn Geyer ihn mangelnder Systematik und Beständigkeit („vorgefertigte Agenda“), dafür aber der Fähigkeit zeiht, „hellwach zufälligen Chancen“ zu folgen, das „Okkasionelle“ als „Selbstentzündung“. Da hat man anderen geraten, sich doch endlich mal für irgendetwas zu entscheiden, und dann das.

Dass Sloterdijk sich von den „Fesseln wissenschaflticher Methodik“ befreit habe, wird man neidlos zugestehen. Was freilich der Nachvollziehbarkeit von Argumentationen kaum zuträglich gewesen sein sollte. Wer braucht schon „strengen Belegzwang“, „penible Kausalitäten“ oder „Korrelationen scheidende Analyse“, wo man sich doch „kühn“ auf die „freie pholologische Assoziation“ und „fruchtbare Analogiebildung“ werfen kann. Immerhin kommt damit dem „Argument“ eine – bitte Obacht – „höhere, von zufälligen Passungsverhältnissen bestimmte Mobilität“ zu. Hoho. Um soweit zu kommen studiert man zuerst Kritische Theorie und dann indische Philosophie in einem Ashram. Im Vergleich dazu wirkt Hermann Hesse seriös.

Einmal soweit gekommen, kann Sloterdijk denn auch den Totschläger „bekanntlich“ überall dann den Verhältnissen überziehen, wo es ihm passt. Der Geburtstagsschreiber meint dazu, das Sloterdijk damit seine Leser in Haft nehme, was ihnen wohl zurecht geschieht. Selber schuld. „Evidenz“ wird auf diese Weise willfährig und willkürlich angewiesen. Aber dass Geyer Sloterdijk in Sachen Gott einen „schmissigen Befund“ nachsagt, soll man Sloterdijk nicht vorwerfen. Nicht einmal, dass „Konflikte um Wahrheitsfragen“ „obsolet“ erscheinen. Ab in den „Sumpf der Diskurse“ mit so etwas. 

Wer sich von solcherart Schreibe unterhalten fühlt, wird das „graue Haus der Philosophie in feurige Farben“ getaucht sehen. Egal was es war, das will ich haben. Andere werden sich vielleicht eher über Zeit und Geld ärgern oder sich schämen, wenn man sie mit dem neuesten Sloterdijk erwischt.

Bleibt festzuhalten: Es ist erstaunlich, wie weit Sloterdijk gekommen ist, und dass sogar ein Verlag wie Suhrkamp ihm die Treue hält. Jetzt hat er anscheinend sogar einen Roman veröffentlicht, der sicherlich  gelesen wird, von wem auch immer. Und 70 ist er sogar. Chapeau. Da hatten andere mehr Pech.


Das ungerechte Rechtssystem

1. Juni 2017

Das Rechtssystem steht im Ruf, auf Rechtsverstößte, vulgo Verbrechen, nicht angemessen zu reagieren, was es legitimiert, wenn die Betroffenen oder deren Angehörigen das Recht selbst in die Hand nehmen. Das mag stimmen oder nicht, ein Hinweis des Strafverteidigers Adam Ahmed weist jedoch darauf hin, dass das Rechtssystem weitaus stärker den Vergeltungsgedanken trägt, als ihm zugetraut wird.

In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21.5.2017 bemerkt er etwa, dass es äußerst unwahscheinlich sei, dass ein Täter bei einem Kapitalverbrechen  frei ausgehe, wenn er zu den Vorwürfen schweige. Viel wahrscheinlicher sei es, dass ein Unschuldiger verurteilt werde, was man an den Fällen sehe, in denen ein Beklagter mangels Beweisen freigesprochen werde, der Bundesgerichtshof das Urteil aber wegen der mangelhaften Formulierung des urteilenden Richter aufhebe und es dann zu einer Verurteilung komme. Wenn ein Richter ein Verfahren zulasse, dann gehe er auch davon aus, dass es zu einer Verurteilung kommen werde. 

Nun ist es richtig, dass die Frage, ob es zu Verurteilungen komme, etwas anderes ist als die Frage, ob jemand überhaupt vor Gericht gestellt wird. Aber landet jemand erst einmal vor Gericht, dann wäre er damit bereits vorverurteilt. Das Recht ist damit auf andere Art ungerecht, als ihm nachgesagt wird.