Das Lexikon ist tot, hoch lebe das Lexikon

Wikipedia hat den Konversationslexika das Geschäft weggenommen, gerade weil die Artikel nicht schlechter waren als bei gedruckten Wälzern. Jetzt gehen Wikipedia die Beiträger flöten und Kritik an der Qualität gibts auch. Ein Kommentar und ein Rückverweis auch in eigener Sache

12. Juli 2025

FAZ und TAZ unisono? Das kommt gar nicht so selten vor, so auch in diesem Fall. In der Sonntagsausgabe vom 6. Juli beklagte die FAZ, dass wikipedia voller Fehler sei, und berichtete im Wirtschaftsteil dann auch gleich, wie die Wissensseite im Internet, die aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken ist, an ihre Mitarbeiter kommt. Allerdings bestehen die meisten attestierten „Fehler“ vor allem darin, dass Artikel nicht aktualisiert worden sind, dass Daten fehlen und nicht ergänzt wurden. Ein Problem von Druckenzyklopädien, das mit der Einführung der Internetwissensseite als gelöst galt. Immerhin ist es möglich, jederzeit neue Daten einzupflegen und nachzubessern, wenn Fehler und Fehleinschätzungen erkannt werden.

Das betrifft im übrigen nicht Artikel, die offensichtliche Tendenzen zeigen, etwa den zu Ernst Wiechert, der auch in Wikipedia zum Widerstandshelden hochgelobt und der Inneren Emigration zugerechnet, während seine anfängliche Sympathie mit dem NS-Regime bagatellisiert wird. Dass er auch zwischen 1933 und 1945 ein äußerst erfolgreicher Autor war (auch nach seiner Haft in Buchenwald), wird zwar beiläufig berichtet, aber eben nicht mit seiner Anschlussfähigkeit an die NS-Ideologie begründet.

Nun mag man zu solchen Autoren stehen, wie man will, Wikipedia ist der falsche Ort, über deren Einschätzung Diskussionen zu führen. Zumal die redaktionellen Möglichkeiten der Seite deutlich beschränkt sind. Die FAZ meldet, dass das deutsche Wikipedia aktuell nur rund 6.000 Mitarbeiter/innen hat, also etwa eine Halbierung im Vergleich zu einer unspezifisch „einst“ genannten Vorzeit.

Dieser Schwund von Beiträger/innen führt eben nicht nur dazu, dass der Output an Artikeln schrumpft, sondern auch dazu, dass Artikel nicht weitergeführt werden können. Hinzu kommt, dass auch Wissenswertes Moden unterliegt, also Themen eine Zeit lang intensiv nachgefragt werden, dann aber völlig vergessen werden. Was also – wenn man das als Literaturwissenschaftler darauf beziehen darf – Autorinnen und Autoren und deren Werken widerfährt, dass sie schlichtweg vergessen werden, geht auch Themen so. Was dazu führt, dass man eine Menge veraltetes Wissen auf solchen Seiten mitschleppt. Mit dem Vorteil, dass niemand auf die Idee kommt, die Infos gleich ganz zu löschen, wie das bei gedruckten Lexika der Fall ist, die mit beschränktem Raum auskommen müssen. Ein Grund auch für den gedrängten lexikalischen Stil.

Interessant ist nun, dass Wikipedia nach einigen sehr erfolgreichen Jahrzehnten an den Punkt angelangt ist, von der Freiwilligkeit der Beiträger wenigstens teilweise auf professionelle Redakteure umzuschwenken. Und damit auf eine Struktur zurückkommt, die vor fast dreißig Jahren im Umfeld des Lexikons Die Deutsche Literatur diskutiert wurde (an dem der Schreiber dieser Zeilen als Redakteur beteiligt war).

Da seinerzeit die Redakteursstellen weggefallen waren und eine etatisierte Redaktion kaum mehr zu erwarten war, schlugen die Lexikonmacher vor, das Projekt einer Aufnahme aller deutschsprachigen Autorinnen und Autoren in eine Datenbank zu verlagern und eine Kombination von hauptamtlichen Redakteuren und ambitionierten, aber freiwilligen Beiträgern zu etablieren. Der Vorschlag verhallte Mitte der neunziger Jahre ungehört, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass in den neunziger Jahren andere Themen auf der Agenda standen und die Protagonisten des Projektes nicht auf etatisierten Stellen saßen und in einem institutionalisierten Projekt arbeiteten. Das kann, muss man aber nicht beklagen.

Aufschlussreich ist nun, dass Wikipedia nun, nachdem der Zuspruch der freiwilligen Zuarbeiter nachlässt, die Seite selbst aber weiterhin eine zentrale Rolle als elektronisches Konversationslexikon spielt, auf eine Idee zurückgreift, wenngleich von einer anderen Position heraus, die ja bereits vor längerem vorformuliert wurde. Was schließlich darauf verweist, dass eine Kombination beider Ressourcen, freiwilliger Mitarbeiter/innen und einer institutionalisierten Redaktion gerade für die Wissensdynamik in der Moderne logisch erscheint. Allerdings strebt Wikipedia anscheinend einen Stab von etwa 50 Redakteuren an, während das allein auf die deutschsprachige Literatur fokussierte damalige Projekt lediglich einen kleinen Redakteursstab angedacht hatte.

Die Bedingungen sind heute allerdings in mehrfacher Hinsicht andere, davon abgesehen, dass Wikipedia keine Autorenseite ist, sondern umfassender Wissenserschließung anstrebt. Wie eine kleine Studie zu dem Rundfunkautor Friedrich Albrecht zeigt, die der Verfasser dieser Zeilen jüngst publiziert hat, lassen sich die Recherchen zu Autorinnen und Autoren heute auf völlig anderen Wegen und mit einem wesentlich effektiveren Zugriff auch auf tradierte Ressourcen durchführen.

So gelang es nun, durch die Abfrage zweier Datenbanken mehr als 100 Rundfunkarbeiten Albrechts zu recherchieren sowie weiteres Material, das bislang im Kulturarchiv der letzten 150 Jahre versteckt gelegen hatte, aufzufinden. Wissensarbeit kann mittlerweile also anders und mit deutlich besseren Ergebnissen als noch vor 30 Jahren geleistet werden. Was auch heißt, Wikipedia bei der Etatisierung der Redakteursstellen eine glückliche Hand und genügend Mittel zu wünschen. Eine Gesellschaft, die Wissen braucht, muss dafür auch die nötigen Mittel aufwenden.

Hier nun die Nachweise:

Lachende Lautsprecher. Erkundungen in Sachen des Rundfunkautors Erwin F. B. Albrecht. In: Aetherische Stimmen. Beiträge zur Rundfunkkultur des frühen 20. Jahrhunderts (und vieles andere mehr). Herausgegeben von Walter Delabar. Bielefeld: Aisthesis 2025, S. 114-131

Hier können Familien Kaffee kochen. Rundfunkarbeiten von Erwin Albrecht zwischen 1933 und 1945. In: Aetherische Stimmen. Beiträge zur Rundfunkkultur des frühen 20. Jahrhunderts (und vieles andere mehr). Herausgegeben von Walter Delabar. Bielefeld: Aisthesis 2025, 134-150.


„Gordon ist mein Butterbrot. Sie nicht.“

Beziehungskalküle bei Agatha Christie (oder ein angewandter Brecht)

2. Januar 2025

Agatha Christie war nicht nur eine kreative und äußerst amüsante Krimiautorin, sie führt auch die Diskussionen etwa zur ökonomischen Basis der weiblichen Emanzipationr der 1920er und frühen 1930er Jahre weiter. Dabei reproduziert sie auch die jeweiligen Tendenzen ihrer Zeit, was angesichts der langen literarischen Karriere einige Wendungen impliziert. In dem erstmals 1939 unter dem Titel „Easy to Kill“ erschienenen Roman (auf deutsch „Das Sterben in Wychwood“, hier in der Fassung der 17. Aufl. 1984 bei Scherz) findet sich das Streigespräch eines Mannes, Luke, und einer Frau, Bridget, die erkennbar im Verlauf der Geschichte zum Paar werdens wollen. Zum Zeitpunkt des Gespräche ist die Frau jedoch noch die Sekretärin und werdende Gattins des Zeitungsmagnaten Lord Whitfield, der sich in seinem Geburtsort Wychwood eine Residenz leistet. Kurz zuvor haben die beiden in einem Tennismatch gegen den Bräutigam nur deshalb verloren, weil Bridget ab dem Moment, in dem der Lord übelste Laune bekommt, ihre miserabelste Tennisform zeigt, offensichtlich weil er das Match zu verlieren droht – und ein Mann seines Standes verliert nicht gern.

Luke ist empört und stellt Bridget zur Rede, nicht ohne sich bei dieser Gelegenheit zu erklären. Was ihm freilich zu diesem Zeitpunkt – mehr oder weniger auf der Hälfte seiner Ermittlungen zu einer merkwürdigen Reihe von Todesfällen Wychwood – noch abschlägig beschieden wird, und zwar auf einer klaren wirtschaftlichen Entscheidungsgrundlage. Sie erklärt Luke schlicht: „Gordon“ – das ist der Vorname von Lord Whitfield – „ist mein Butterbrot. Sie nicht.“ Auf die Frage, warum sie Lord Whitfield heiraten will, antwortet sie zudem damit, dass sie als Ehefrau deutlich besser gestellt sei denn als Sekreträrin. 100.000 Pfund als Ausstattung, einiges an Schmuck und ein ordentliches Toilettengeld schlagen sechs Pfund die Woche ziemlich deutlich. Dafür muss sie als Ehefrau allerdings „andere Pflichten“ erfüllen, was die kaum verdeckte, aber immer noch umschriebene Wendung für die sexuellen Dienstleistungen ist, die die Ehefrau im Rahmen ihrer ehelichen Pflichten erbringen muss, so zumindest der zunehmend eifersüchtige Luke.

Bridget tut das aber als „melodramatischer Haltung“ ab: Der vermögende Gatte sei mehr Junge als Mann, seine Bedürfnisse richteten sich auf den Ersatz der früh verlorenen Mutter, er bedürfe der Aufmerksamkeit. Sex – der nicht ausdrücklich erwähnt wird – wird also nicht die Leistung sein, die die erbringen muss, auch wenn Bridgets Argument, das folgt, eine literarische Schwachstelle hat: „Meine Aufgabe als Gordons Gattin wird kaum von meiner Aufgabe als Gordons Sekretärin zu unterscheiden sein.“ Man erinnere sich an die Vorgeschichte von Keuns „Kunstseidenem Mädchen“ oder an Rudolf Braunes „Mädchen an der Orga Privat“, dass da auch mehr sein kann.

Mitgedacht ist das hier nicht, aber Agatha Christie schließt auch so an die Fragestellungen deutschsprachigen Romane der frühen 1930er Jahre an, die immer durchspielen, wie denn junge Frauen in der modernen Gesellschaft, die ihnen zwar mehr Rechte und Möglichkeiten, aber eben auch mehr Risiken bescheren, bestehen sollen. Vicki Baums „stud. chem. Helene Willfüer“ oder Helene Wolffs Nachlassroman „Hintergrund für Liebe“ ( jüngst erst herausgegeben als eines der letzten Bücher bei Weidle in Bonn, vor dem Verkauf) führen das vor, auch Keuns „Kunstseidenes Mädchen“. Das wirtschaftliche Überleben ist dabei ein vorrangiges Ziel, das mit verschiedenen Mitteln erreicht werden kann, auch mit der Ehe, auch mit der Prostitution und gelegentlich mit einer Kombination von beidem.

Das macht die Situation zwischen Luke und Bridget nicht einfacher, aber klarer. Er ist ein wenig altmodisch und melodramatisch, sie ist eben eine moderne Frau, die sich um sich selbst sorgen muss. Das bringt ihr den Vorwurf ein, ein „kaltblütiger kleiner Teufel“ zu sein, was sie damit kontert, dass sie ihn einen „heißblütigen kleinen Narren“ nennt.

Und um ihr Konzept noch tragfähiger zu machen, trägt sie ihre Geschichte mit einem gewissen Johnnie Cornish vor, den sie geliebt, der sie aber für eine „rundliche Witwe mit ländlichem Akzent, einem Doppelkinn und einem Einkommen von dreißigtausend Pfund im Jahr“ verlassen habe. So etwas könne einem schon die Romantik austreiben. Um Romantik, lernen wir daraus, geht es in wirtschaftlich schweren und zugleich unruhigen, ja dynamische Zeiten eben nicht, sondern darum zurecht zukommen. Was auf den Satz vom Vorrang des Fressen vor der Moral verweist.


Biografische Anstrengungen

Kurze Notizen zu einem Genre

29. November 2024


Biografien sind in den Kulturwissenschaften wahlweise ein
Zugeständnis an die Restbestände der Genieästhetik oder ein Eingeständnis, sich
dem Authentifizierungszwang der Moderne nicht entziehen zu können. Ob nun das
Originalgenie in seinen jeweiligen Abnutzungsformen im Vordergrund steht, die
seit der Wende zum 20. Jahrhundert vorgeführt worden sind, oder die Echtheit
des persönlichen Ausdrucks, die aufgrund der Abstraktheit moderner Systeme
beschworen wird, bleibt wahrscheinlich unentscheidbar. Jedenfalls kommt
irgendwann der Moment, in dem der Autor des Werks das Werk zu verdrängen
beginnt, weil nur er (oder sie) selbst für dessen Authentizität und/oder
Wirkmacht einzustehen vermag.

Dabei hat Svetan Todorov biografische Arbeiten vor
langen Jahren bereits (in seinem Artikel zur „Poetik“) mit ziemlich deutlichen
Worten aus dem wissenschaftlichen Feld verwiesen. Er ist aber damit –
offensichtlich – grandios erfolglos geblieben. Der Vorrang des Werks vor seinem
Autor hat sich anscheinend ebensowenig durchsetzen lassen wie die Idee,
dass kein individueller Autor Werke hervorbringt, sondern sie sich selbst
generieren.

Dabei ist die Funktion dieser biografischen Operation erkennbar genug: Erst mussten Künstler resp. Autoren (die ja nicht nur schreiben, sondern auch andere Kunst hervorzubringen) den Verlust von Totalität

kompensieren (Goethe forever), dann mussten sie eben dafür einstehen, dass das,
was sie geschrieben, gemalt oder eben auch fotografiert hatten, auch
tatsächlich und wahrhaftig war und ist. Was am Beispiel der Fotografie schon als
beeindruckende Volte gesehen werden darf, wo sie selbst ja schon das Tatsächliche
und Wahrhaftige garantieren soll.

Was zu einer weiteren Nebenbemerkung führt, hier zu den methodischen Sollbruchstellen von Biografien, kommen sie doch einerseits ihren Objekten notwendiger Weise extrem nahe, während andererseits Leerstellen biografischer Verläufe einigermaßen plausibel gefüllt werden müssen – was allemal den Vorwurf mangelnder Distanz einerseits, unzulässiger Extrapolation andererseits provoziert.

Anders formuliert, Biografen kommen in den Verdacht, sich mit den porträtierten Gestalten der Geschichte allzusehr zu identifizieren. Was allerdings wohl bei Hölderlin einen anderen Grad an Akzeptanz hat als etwa bei Hitler, Stalin oder Pol Pot. Zugleich sind große Teile von Biografien notwendiger Weise erfunden, weil Biografen unter dem Druck stehen, konsistente biografische Erzählungen zu liefern und keine wesentlichen Lücken zu lassen. Einzuräumen, dass es Episoden im Leben einer Person gibt, die biographiewürdig ist, kann dann schon als Eingeständnis von Biografen gelten, an ihrem Projekt gescheitert zu sein.


Literarische Verbrechen

Ross Thomas‘ Krimis sind (beinahe) perfekt. „Zu hoch gepokert“ demonstriert das

2. September 2023

Man könnte behaupten, dass der Krimi der Gegenwart allzu oft an den mangelnden Kompetenzen seiner Schreiber/innen leidet. Warum? Immer wieder spült es neue Autor/innen ins Genre (was kein Schaden ist), und die Verlage scheinen für alles halbwegs Taugliche dankbar genug zu sein, dass sie alle möglichen stilistischen und auch konzeptionellen Augen zudrücken. Anders lassen sich die zahlreichen schlecht geschriebenen und nicht zuende gedachten Krimis kaum erklären. Von denen, die aus anderen Gründen nicht hingehen, abgesehen. Allerdings muss hier gleich eingeräumt werden: Schlechte Krimis hat es immer schon gegeben. Aber der Glaube an die Lernfähigkeit eines Betriebs und eines Genres kommt einem schon gelegentlich abhanden – weshalb man gelegentlich dann zu einem der Großmeister greifen muss, um die Stimmung hoch zu halten und den Geschmack an den Verbrechen in der Literatur angesichts der zahlreichen literarischen, naja, Verbrechen nicht zu verlieren.

In diesem Fall soll es also der 1995 verstorbene amerikanische Altmeister Ross Thomas sein, dessen Werk seit einigen Jahren vom Alexander Verlag gepflegt und in einer neuen Übersetzung herausgebracht wird. Auch wenn der Verlag ansonsten vor allem großes Theater feiert, mit Ross Thomas hat er sich Dank verdient, der ihm hier entgegengebracht werden soll.

Das jüngste Produkt dieses Engagements ist ein kleiner, aber bemerkenswerter Krimi, der präzise auf den Punkt hin geschrieben ist. „Zu hoch gepokert“ heißt er in der neuen deutschen Fassung, als „Ein scharfes Baby“ hat ihn Ullstein 1974 bereits einmal gedruckt. Im amerikanischen Original ist er als „The Highbinders“ erschienen, noch unter dem Pseudonym Oliver Bleed – allesamt Titel, die wenig zu verbinden scheint; aber das Problem deutscher Titel ist seit Jahrzehnten virulent.

So bedenklich die Titelvarianten sind, so brillant ist der Text selbst, und das auch in der deutschen Übersetzung, die von Gisbert Haefs (sic!) stammt: Keine Zeile, kein Satz, kein Wort scheint zu viel zu sein, obwohl sich Thomas einige Abschweifungen erlaubt, die allerdings so in das Romangefüge eingepasst werden, dass Leser dabei immer bedient werden. Selbst was sonst als unverzeihlicher Fehler gilt, nämlich das Auftauchen eines „deus ex machina“ (bei Thomas sinds gleich mehrere) wird derart selbstverständlich inszeniert, dass ihm so etwas niemand krumm nehmen kann.

Die Geschichte, die Thomas hier um seinen Protagonisten Philip St. Ives herum baut, ist vom selben Understatement geprägt wie die Erzählweise insgesamt. Es braucht keinen brutalen Auftakt, um Leser zu fesseln, sondern nur einige amüsierende Sätze, die immer wieder demonstrieren, dass viel dazu gehört, gute Texte zu schreiben. Vor allem Zurückhaltung.

Jener Philip St. Ives nun, eigentlich ein Journalist, wird nach London geholt, um einen anfangs noch geheimnisumwehten wertvollen Gegenstand wieder zu beschaffen, der seinem Eigentümer entwendet worden ist. Der Deal dabei ist, dass es für den Eigentümer billiger und erfolgsträchtiger ist, sein Eigentum zurückzukaufen, als zu riskieren, dass es auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Meist handelt es sich um Kunst, manchmal um Schmuck, immer um etwas von Wert, gelegentlich ist das Eigentumsrecht an der Sache strittig.

Die Aufgabe des Vermittlers, als der St. Ives angeworben ist, ist es, das Diebesgut gegen Lösegeld auszutauschen, so dass es keinen direkten Kontakt zwischen den Parteien gibt. Soweit so gut. Der Deal scheint halbwegs voran zu gehen, bis dann die Situation eskaliert und eine Reihe von Leichen auftaucht, alles Leute, die irgendwie mit dem Schwert Ludwig des Heiligen, um das es sich hierbei (angeblich) handelt, zu tun haben.

Spätestens bei diesem Schwert, das angeblich in einem Londoner Trödel aufgetaucht ist, nachdem es Jahrhunderte verschollen war, sollten Leser aufmerksam werden, droht hier doch der Rückfall in die phantastische Kolportage, wie sie etwa in den Indiana Jones-Filmen bis heute überlebt hat. Irgendwie scheint die Suche nach einem verlorenen Schatz, hier in der Fassung des unvermutet bereits gefundenen und dann unglücklich verlorenen, die Fantasie immer noch anzuregen und für Aufmerksamkeit zu sorgen. Obwohl der Blödsinn-Quotient in solchen Sachen unerhört hoch ist.

Aber Ross Thomas weiß sogar mit einem solchen Stoff umzugehen, angemessen sowieso, wie spätestens das Ende zeigt, bei dem das schöne alte Schwert, das angeblich auch noch für den Staat Frankreich einen unerhörten Wert besitzt, vielleicht und beinahe endgültig verloren geht. Es sei denn, es taucht irgendwann und unverhofft wieder in einem Londoner Trödel auf. Du es sei denn, dass es dieses Schwert überhaupt wirklich gibt.

Da macht es sogar eher Sinn, sein Geld mit Poker zu verdienen, was St. Ives gleichfalls im Laufe des Romans mit gutem Erfolg versucht – und woher der neue Titel wohl seine Legitimation bezieht.

Naheliegend ist das Ganze als Kammerspiel angelegt. Jeder kennt hier irgendwie jeden. Die Welt ist klein im kriminellen Milieu des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und Thomas inszeniert das sich immer mehr steigernde Gemetzel in dieser kleinen Welt mit einer Bravour, die es in sich hat. Chapeau, auch nachträglich.

Ross Thomas: Zu hoch gepokert. Ein Philip-St. Ives-Fall. Aus dem amerikanischen Englisch von Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2023.


Ein gelbes Tier mit schwarzen Flecken

Stefan Börnchen schreibt Flix‘ neuem Marsupilami-Band die Antwort auf beinahe alle Fragen zu

15. März 2023

In der FAZ vom 25.10.2022 hat Stefan Börnchen eine beeindruckte Besprechung von Flix‘ neuem Comicband zum Marsupilami veröffentlicht (Das Humboldttier, Hamburg: Carlsen 2022), der das merkwürdige gelbe Wesen, das anscheinend aus Südamerika stammt und beeindruckende schwarze Flecken und einen, ich glaube, acht Meter langen Greifschwanz trägt, ins Berlin des Jahres 1931 versetzt. Das ist nicht das erste Mal, dass die Marsupilami-Geschichte neue Varianten erhält. Aber ein fiktionaler Kosmos verträgt viele Widersprüche, es muss auch nicht alles zusammenpassen, das sollte man alles nicht zu eng sehen. Ein Jahr vor Flix hat etwa das Gespann Zidrou und Frank Pé den ersten Band einer Folge herausgebracht (Die Bestie 1, 2021, gleichfalls bei Carlsen), in dem das Marsupimali dieses Mal das Belgien der Nachkriegszeit unsicher macht. Denn darauf kommt es an. Egal wohin das Marsupilami versetzt wird, es macht immer Aufsehen und stellt die Verhältnisse auf den Kopf, wobei es offensichtlich durchaus zwischen angenehmen und unangenehmen Zeitgenossen zu unterscheiden vermag.

Stefan Börnchens Besprechung ist selbst wiederum beeindruckend, Börnchen sieht genau hin, weist auf unauffällig zeichnerische Verweise hin, die Flix in seinen Band einbaut – Referenzen an die Großen seines Fachs, an Art Spiegelmans „Maus“ etwa oder an Hergés „Tim in Tibet“. Alles das, wie auch die zeittypischen Themen wie Antisemitismus, aufkommender Nationalsozialismus, autoritäre Haltungen – will sagen Blockwartstypen – im preußischen Berlin oder eben auch die Problematik der kolonialen Aneignung (dieses Mal am Beispiel des Humboldtschen Sammeleifers, der seinen künftigen Präparate schon mal ganz sanft das Genick bricht) wird bei Flix, so Börnchen zurückhaltend, ja leise behandelt. Das kann man loben, wie auch die narrative Komposition von kultureller Appropriation mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in einer der interessantesten urbanen Zentren des frühen 20. Jahrhunderts.

Dem sei genauso wenig widersprochen wie dem Lob, das Börnchen Flix ausspricht. Freilich steht Börnchens Besprechung unter einer theoretischen Annahme, die er gleich zu Beginn mit Bezug auf eine Publikation von Michael Rothberg formuliert und die, recht knapp, auf die Formel der Konkurrenz von Dekolonialisierung und Holocaustgedenken bringt.

Hintergrund dieser Konkurrenz ist die Kritik postkolonialer Intellektueller und Gruppen am Staat Israel und dessen Palästina-Politik, in der eine Fortsetzung kolonialen Handelns gesehen wird. Sie mit dem Verweis auf die Traditionen von Antisemitismus, mithin als antisemitisch zurückzuweisen, ist inhaltlich solange kaum plausibel, als die Kritik am staatlichen Handeln sich von antisemitischen Mustern fernhält. Was seine Politik angeht, ist der Staat Israel nicht sakrosankt. Etwas anderes ist es, wenn die Kritik Israels sich antisemitischer Muster bedient. Die Formen der Kritik, wie sie etwa bei der Documenta 15 bekannt gemacht wurden, berühren diese Grenze zumindest. Dass die Diskussion darüber in Deutschland schnell an ihre Grenzen kam, ist angesichts der deutschen Geschichte kaum verwunderlich. Und es gibt gute Gründe vorzubringen, dass es in Deutschland dafür andere Sensibilitäten gibt als anderswo. Selbst postkoloniale Autoren wie Achille Mbembe geraten mit ihrer Kritik Israels selbst wieder in die Kritik, was nicht zuletzt zeigt, in welchem schwierigem Gelände man sich hier bewegt.

Börnchen nun sieht in Flix‘ Kombination der Humboldtschen Vorgeschichte des Marsupilami mit dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft um 1931 einen Versuch, die Konkurrenz beider gesellschaftskritischer Ansätze aufzuheben und sie beide fruchtbar zu machen – was grundsätzlich zu begrüßen ist. Denn trotz der anscheinend unauflöslichen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis ist der Widerspruch zwischen Dekolonialisierungsanspruch und Ächtung des Antisemitismus nicht essentiell.

Allerdings bleibt zu fragen, ob Börnchens Belege zu mehr reichen, als einen sehr subtilen Subtext des Bandes zu konstatieren, der durch ein Hauptnarrativ überdeckt wird, das wiederum an das anarchische Grundnarrativ der Marsupilami-Figur gebunden ist.

Um den Subtext zu identifizieren, macht Börnchen einige Hinweise des Textes stark, die jedoch einem weniger aufmerksamen Leser schnell entgehen. So sei die Familie der kleinen Mimmi zweifellos jüdisch, wie ihr Name (Löwenstein), der siebenarmige Leuchter aus dem Küchentisch und ein Davidstern am Fenster zeigten. Allerdings findet sich auf dem Küchentisch neben der Menora zudem noch ein Kerzenständer, der als Weihnachtsengel gelten kann.

Der siebenarmige Leuchter oben links, links daneben der Kerzenständer. Die Seraphim gibts anscheinend im Judentum und im Christentum (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Und auf der Seite, auf der sich die Zeichnung mit dem sechszackigen Stern findet, wird – im übrigen deutlich auffälliger – die Zeichnung einer Fotografie gezeigt, auf der Mimmi samt Mutter und dem abwesenden Vater (tot? abgehauen?) unter dem Weihnachtsbaum und vor einer Krippe zu sehen sind.

Im Bild oben rechts am Fenster unscheinbar, ein sechseckiger Stern. Unten in der Mitte das Familienfoto unterm Weihnachtsbaum. Nebenbei die üble Nachbarin mit nicht minder übler Nachrede oben links. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Die Familie ohne weiteres also als jüdisch zu kennzeichnen, ist mit diesen Hinweisen wohl zumindest nicht zwingend; es bleiben Widersprüche. Der stärkste Hinweis ist allerdings die Beschwerde einer der Nachbarinnen über das „Judenkind“, das nicht nur die saubere Treppe einsaut, sondern auch noch dem freundlichen Blockwart des Hauses (naja, es wird wohl der Hausmeister sein) die Zunge rausstreckt. Aber diese üble Nachrede ist im Band bewusst sehr klein geschrieben (siehe unten rechts), muss also halbwegs mit der Lupe gelesen werden. Und als üble Nachrede ist sie auch nicht wirklich belastbar.

„Es sind immer die Juden“ – hier sehr klein gehalten das Gerede der miesen Nachbarinnen. (Abb. aus dem oben angegebenen Band)

Was auch hier heißen soll, dass Flix die Kritik am Humboldtschen Sammelwahn durchaus wahrnehmbar formuliert, das Thema Antisemitismus aber eher im Hintergrund mitlaufen lässt, während er die Fortführung der anarchischen Wirkung des Marsupilami auf das preußische Berlin in den Vordergrund stellt.

Nimmt man solche Einwände ernst, dann ist die These Börnchens deutlich weniger tragfähig, als es einem lieb sein kann, denn an der Vereinbarkeit beider politischer Linien, der Entkolonialisierung der westlichen Gesellschaften und der Ächtung antisemitischen Gedankenguts sollte es eigentlich keinen Zweifel geben, auch nicht daran, dass Flix sich dieses Themas im Hintergrund annimmt. Aber eben im Hintergrund, was den Anspruch an seine Leser deutlich erhöht – schaut genau hin. Und dennoch nicht von der Hauptlinie des Bandes ablenken sollte, dass nämlich auch eine urbane Gesellschaft wie dieses Berlin der frühen 1930er Jahren ein gerütteltes Maß an anarchischer Energie hätte vertragen können. Und dass die Sammelleidenschaft der beginnenden modernen Gesellschaft ihrerseits grenzwertig ist.